Die kleine Eiszeit – „Der Tanz des Todes“

Inhalt

 

Welch großen Einfluss das Klima auf die physische und psychische Verfassung einer Gesellschaft hat, die zudem weitgehend vom Feldbau und somit vom Wetter abhängig ist, versucht Wolfgang Behringer [8] zu folgern. Aus seinem Buch „Kulturgeschichte des Klimas“ seien deshalb im Folgenden einige Kapitel zitiert. Die psychischen Krisenreaktionen der Menschen damals reichten von Verzweiflung und Selbstmord, angesichts des wahrgenommenen Strafgerichtes Gottes, bis zu Aktionismus bei der Sündenbekämpfung, der sich in Judenpogromen und Hexenverfolgung äußerte, denn die Strafen Gottes konnten nur Antwort auf die Sünden jedes einzelnen Menschen sein, mancher wurde sich so in der Folge bei der Suche nach seinem eigenen Anteil an diesen Schrecknissen seiner persönlichen Verantwortung für das Gemeinwesen bewusst. Ganz sicher haben diese Krisen und ihre letztlich wirkungslos bleibenden aktionistische Auswüchse auch einen mählichen Bewusstseinswandel hin zu neuen Ordnungen weg von religiösem Fanatismus und näher zur kühlen Vernunft bewirkt. Ob die Periode der Aufklärung im 19. Jahrhundert ohne die „Kleine Eiszeit“ notwendig geworden wäre, wenn die Hochmittelalterliche Warmzeit und das durch sie bedingte Aufblühen der europäischen Hochkultur angedauert hätten?

Sicherlich steht jedoch das Verschwinden von Gehaus aus den Chroniken mit dem Großen Hunger und dem Schwarzen Tod in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Zusammenhang.

Quellen

  1. Lemke, Dietrich: „Geschichte in der Thüringischen Rhön“ ISBN 3-00-007057-5
  2. Morgenroth, Volker: „Geologische Exkursionen in der thüringischen Rhön“ in „Die Rhön im Herzen Deutschlands“ Verlag Parzeller, ISBN 3-7900-0219-4
  3. Boockmann, Hartmuth: „Einführung in die Geschichte des Mittelalters“ C. H. Beck, ISBN 3-406-36677-5
  4. Hesselmann, Gerda: „Aus der Geschichte unserer Heimat – Empfertshausen und Umgebung. – 1.Teil: Bis Ende des Dreißigjährigen Krieges.“ Broschüre
  5. Benzien, Ulrich: „Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends unserer Zeit bis um 1800“, ISBN 3-289-00468-6
  6. Modellpflüge – Eine Sammlung des Deutschen Historischen Museums, Berlin – PDF-Datei 600KB zum Download
  7. Schlette, Friedrich: „Germanen zwischen Thorsberg und Ravenna“ Urania-Verlag Leipzig-Jena-Berlin
  8. Behringer, Wolfgang: „Kulturgeschichte des Klimas – Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung“, C. H. Beck, ISBN 978-3-40-652866-8
  9. Reichholf, Josef H.: „Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends“, S. Fischer Verlag GmbH, ISBN 978-3-10-06294-5

 

Der Große Hunger von 1315–1322

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde Europa von einem Unglück heimgesucht, wie es nach Ansicht der Zeitgenossen niemals zuvor erfahren worden war: dem Großen Hunger. Dies war eine Plage, wie man sie nur aus dem Buch Genesis (Gen. 41, 30) kannte: die berühmten sieben «mageren Jahre». Der Hunger, der Europa zu Beginn des 14. Jahrhunderts heimsuchte, sollte vielerorts genau sieben Jahre dauern, von 1315 bis 1322. Noch Chronisten des frühen 16. Jahrhunderts erinnerten sich an diese Zeit der biblischen Plagen. Selbst moderne Historiker fanden keine andere Hungersnot in Europa, die so lange andauerte und vergleichbare geographische Ausmaße hatte: Der Große Hunger reichte von den Britischen Inseln bis Russland und von Skandinavien bis ans Mittelmeer.
Die moderne Forschung hat vier mögliche Ursachen für den Ausbruch dieser außerordentlichen Hungersnot diskutiert: (1) den Bevölkerungsdruck, der sich durch das Bevölkerungswachstum während der hochmittelalterlichen Warmzeit aufgebaut hatte und nun die Produktivkraft der Landwirtschaft überstieg; (2) das anhaltend ungünstige Erntewetter, das bei den unzulänglichen Lagerungsmöglichkeiten für Lebensmittel rasch zu einer Erschöpfung der Ressourcen führen musste; (3) Probleme bei der Verteilung der Lebensmittel aufgrund von Kriegen und Bürgerkriegen, die dazu führten, dass regionale Missernten zu Hungerkatastrophen führten; und (4) den bäuerlichen Konservativismus, der eine Anpassung an neue Umweltbedingungen verhinderte.
Für die zeitgenössischen Chronisten war die Ursache der Hungersnot allerdings klar. Sie war im metaphysischen Sinn eine Strafe Gottes und auf der materiellen Ebene die Folge einer Serie von Naturkatastrophen, unter denen eine besonders hervorragt: die abnorme Witterung. Lange kalte Winter verkürzten die Vegetationsperiode, anhaltender Regen schädigte die Ernte, zumal die des Getreides, von dem das «tägliche Brot» abhing. Der französische Mediävist Pierre Alexandre hat die Berichte der Zeitgenossen verglichen und bestätigt: Kaum jemals in der europäischen Geschichte gab es eine vergleichbare Sequenz kalter Winter wie zwischen 1310 und 1330. Gleichzeitig enthielt das zweite Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts die regenreichsten Jahre des vergangenen Jahrtausends.
Ab 1310 folgte ein kühler feuchter Sommer auf den anderen. Die Ernten waren schlecht, reichten aber zunächst noch zum Überleben aus. Dies sollte sich 1314 ändern, als in England und Deutschland auf schwere Regenfälle im Sommer ein langer kalter Winter folgte, an dessen Ende die Flüsse über die Ufer traten. Die Regierung des Kaisers Ludwig IV. «des Bayern» (r. 1314–1347) sollte unter keinem guten Stern stehen: Er hatte nicht nur mit einem Gegenkönig und dem Papst zu kämpfen, sondern auch mit dem Klima. Das Jahr 1315 war durch anhaltende Regenfälle gekennzeichnet. Diese begannen Mitte April in Frankreich, am 1. Mai in den Niederlanden und an Pfingsten in England und hielten in ganz Mitteleuropa den Sommer über an. Der Himmel war ständig bedeckt, die Sonne war kaum je zu sehen, und die Temperaturen blieben außergewöhnlich kühl. Die Bad Windsheimer Chronik berichtet, dass die Menschen begannen, Hunde und Pferde zu essen, und benutzt den biblischen Begriff von der «Sündflut», denn vielerorts kam es zu großflächigen Überschwemmungen.
Der Winter 1315/16 war so kalt, dass die Ostsee wochenlang zufror. Das neue Jahr blieb ganzjährig zu kalt und feucht, Überschwemmungen zerstörten Mühlen und Brücken und schädigten die zeitgenössische Industrie und Infrastruktur. Die Donau trat in Bayern und Österreich gleich dreimal über ihre Ufer, und allein an der Mur (Steiermark) wurden durch Hochwasser vierzehn Brücken fortgeschwemmt. Der kälteste Winter dieses Jahrzehnts war der Winter 1317/18. Die Kälte reichte von Ende November bis Ostern, in Köln schneite es sogar noch am 30. Juni. Von solchen Extremereignissen abgesehen war der Sommer 1318 insgesamt etwas milder, aber die Jahre 1319 bis 1322 waren so schlimm wie die ersten drei Jahre des Katastrophenzyklus. An der Nordseeküste, in der Normandie und in Flandern kam es zu verheerenden Stürmen und Überschwemmungen, auf dem Festland wechselten sich überreiche Regenfälle mit Dürreperioden ab.
Es stimmt natürlich, dass Krieg das allgemeine Unglück verstärkte. Frankreich erlebte nach der prunkvollen Regierung Philipps IV. (r. 144 Globale Abkühlung: Die Kleine Eiszeit 1285–1314) die Krisenzeit der drei letzten Kapetinger Ludwig X. (r. 1314–1316), Philipp V. (r. 1316–1322) und Karl IV. (r. 1322–1328). Ludwig der Bayer bekriegte den Gegenkönig Friedrich von Österreich. Doch heute wissen wir, dass die Knappheit nicht nur der Kriegssituation geschuldet war. Mehr noch als die Soldaten litt die Bevölkerung an Hunger. Unzufriedenheit beförderte den Aufruhr: Die Schweizer Eidgenossen erkämpften 1315 bei Morgarten ihre Unabhängigkeit von ihrer herrschenden Dynastie, den Habsburgern. Die Schotten errangen in der Schlacht von Bannockburn 1314 die Unabhängigkeit von England. Sie dehnten den Krieg auf Irland aus, und in Wales brach ein Aufstand gegen die englische Vorherrschaft los. Die Welt schien im Umbruch begriffen. In Skandinavien waren die Königreiche Norwegen, Dänemark und Schweden in dynastische Kämpfe verwickelt – allenthalben Kriege, die von Historikern auf der Ebene der Ereignisgeschichte erläutert werden. Hatten sie eine gemeinsame Ursache in den verknappten Ressourcen während der Zeit des Großen Hungers?

Bereits 1315 breitete sich eine «grausame Pestilenz» aus, doch war dies noch nicht der Schwarze Tod. In Gelderland, in den Niederlanden und im Heiligen Römischen Reich sprach man vom «Großen Tod», in manchen Gebieten soll ein Drittel der Menschen gestorben sein. In den Städten Englands, Frankreichs, der Niederlande, Skandinaviens, des Reichs, und auch Polens war die Mortalität so hoch, dass zu neuen Begräbnismethoden gegriffen wurde. Üblicherweise lagen die Friedhöfe noch in der Stadt, doch angesichts der hohen Sterblichkeit begann man mit Bestattungen außerhalb der Stadtmauern. In Metz – das höchstens 20000 Einwohner gezählt haben kann – sollen 500000 Menschen gestorben sein – eine Übertreibung, die den Horror signalisiert. Schätzungen deuten auf eine Sterblichkeit von etwa 5–10 % der Bevölkerung allein im Jahr 1316. Wenn wir auch über keine verlässlichen Zahlen verfügen, so viel ist sicher: Mit dem Großen Hunger der Jahre 1315–1321 ging das Große Sterben einher. Und mit dem Großen Sterben kam das große Grauen: Aus England, aus dem Baltikum und aus Polen trafen Nachrichten ein, dass Eltern in der Not ihre Kinder töteten und Menschen sich wie Kannibalen an den Toten vergriffen.


Der «Triumph des Todes»

Eine der Ikonen der Pestforschung ist der «Triumph des Todes» im Camposanto von Pisa, ein großflächiges Fresko im Stil der toskanischen Malerei, das an den Prolog von Giovanni Boccaccios (1313–1375) «Decamerone» erinnert: Eine Gruppe junger Leute gibt sich in einem lieblichen Hain Spiel und Gesang hin. Doch unversehens werden sie mit der Vergänglichkeit des Lebens konfrontiert. Über einem Felsen kämpfen Engel und Teufel um die Seelen der frisch Verstorbenen, deren Leichname unter ihnen liegen. Der linke Teil des Freskos zeigt das Aufeinandertreffen einer fröhlichen Jagdgesellschaft mit drei in Särgen aufgebahrten Toten, aus denen bereits Schlangen züngeln. Flankiert werden die Bilder durch Szenen vom Jüngsten Gericht und von der Hölle. Diese Mahnung an den Tod auf dem Weg der Trauernden zum Friedhof wurde als eine der eindrucksvollsten Reaktionen auf den Schwarzen Tod interpretiert, als Ausdruck des Entsetzens über die hohe Sterblichkeit, die jeden jederzeit treffen konnte.
Doch heute wissen wir aus den Rechnungsbüchern, dass dieses Fresko bereits 1338 gemalt wurde, fast zehn Jahre vor dem Auftreten des Schwarzen Todes in Italien. Die Toten tragen nicht die Merkmale der Pest und auch auf die in der Pestliteratur genannten Begleiterscheinungen des Sterbens wird nirgends angespielt. Ebenso weiß man heute, dass mehrere andere Todesdarstellungen, die früher mit der Großen Pest in Verbindung gebracht worden waren, schon Jahre davor entstanden sind, etwa das Memento Mori in der Dominikanerkirche von Bozen, wo der Tod vom Pferd aus im Galopp in Massen die Lebenden niedermäht. Die Konfrontation mit dem Tod, der Tod als Sensenmann, die Allegorie der «Pestpfeile», alles war bereits da. Man könnte es sich leichtmachen und argumentieren, gestorben werde immer. Aber ganz so einfach ist es nicht. In der Kunst des Gründungsvaters der westlichen Malerei, Giotto di Bondone (ca. 1267–1337), findet sich – etwa in der 1305 gemalten Arena-Kapelle in Padua – wenig von der Düsternis der nachfolgenden Generation, welcher der Maler des Pisaner Camposanto, der rätselhafte Buffalmacco, angehörte.
Des Rätsels Lösung besteht darin, dass es in den 1330er und erneut Anfang der 1340er Jahre gute Gründe gab, den Tod in besonderer Weise zu fürchten. Betrachtet man die Klimageschichte Mitteleuropas, so finden wir nach einigen guten Jahren, die die Menschen von einer Rückkehr der Warmzeit träumen ließen, Mitte der 1330er Jahre eine Serie schwieriger Jahre. Der Sommer 1335 war kalt und niederschlagsreich, der Wein wurde sauer und die Ernte missriet. Auch das Jahr danach war zu feucht. 1338 sahen sich dann die Menschen mit biblischen Plagen konfrontiert: Im Frühjahr kam es zu großen Überschwemmungen, im Sommer fielen Heuschrecken in Ungarn, Österreich, Böhmen und Deutschland bis hinauf nach Thüringen und Hessen ein. Sie fraßen große Teile der Ernte auf. Erst früher Schnee setzte diesem Schrecken ein Ende. Allerdings erlitten viele Bäume Schneebruch und die Trauben wurden geschädigt, die von den Heuschrecken nicht angerührt worden waren. 1339 und 1340 kehrten die Heuschrecken wieder, bis sie im August von Dauerregen vertrieben wurden, der seinerseits zu Hochwasser und Ernteschäden führte. Der Frühling 1341 war so kalt wie ein Winter. Die Weizenernte fiel in England 1341/42 so katastrophal aus, dass Steuererleichterungen gewährt werden mussten.
Der Sommer 1342 brachte eine der schwersten Umweltkatastrophen der letzten tausend Jahre. Intensive Regenfälle ließen im Juli die Flüsse über die Ufer treten und die Flutwellen zerstörten die großen Brücken in Regensburg (Donau), Bamberg, Würzburg und Frankfurt (Main), in Dresden (Elbe) und Erfurt. Das Hochwasser riss tiefe Schluchten und veränderte die Landschaftsoberfläche nachhaltig. In weiten Gebieten wurde die Ernte vernichtet, es kam zu Teuerung und Hungersnot. 1343 wiederholten sich die langen Regenphasen in den Sommermonaten Juli, August und September. Der Bodensee trat dreimal über seine Ufer und überschwemmte die Städte Lindau und Konstanz. Der Rhein zerstörte zahlreiche Brücken und Gebäude zwischen Basel und Straßburg. Die Ernte war durch Regenfälle und Überschwemmungen beeinträchtigt. Ein kaltes und feuchtes Frühjahr, in dessen Verlauf Stürme schwere Schäden anrichteten, verzögerte die Baumblüte. 1344 minderten große Trockenheit und Dürre die Ernte, nur der Wein geriet wegen der Wärme gut. In Italien kam es zu einer Hungerkatastrophe, die in der Renaissancemetropole Florenz Tausende das Leben kostete. Die städtische Ökonomie geriet in eine Krise, von der spektakuläre Firmenzusammenbrüche künden. Dies war der Kontext, in welchem – Jahre vor der großen Pest – die Fresken über den «Triumph des Todes» in Auftrag gegeben wurden.


Der Schwarze Tod von 1346–1352

Der Schwarze Tod zählt zu den größten Katastrophen in der Geschichte Europas. Während eines Zeitraums von wenigen Jahren soll die Hälfte der Bevölkerung gestorben sein. Dies wäre in der Wirkung schlimmer als alle Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammen. Einige Historiker messen dem Eintreffen des Schwarzen Todes entscheidende Bedeutung für die Transformierung der westlichen Kultur bei. Doch mittlerweile sieht man die Wirkung der Pest differenzierter. Die Mortalität der ersten Pestwelle dürfte niedriger gelegen haben. Und viele der Frömmigkeitsformen, die man der Großen Pest der Jahre 1346–1352 zugeschrieben hat, gab es schon früher (Geißlerzüge, Totentanzdarstellungen) oder sie entwickelten sich erst im Lauf des 15. und 16. Jahrhunderts zu voller Blüte (Sebastianskult, Rochuskult).
Die Antwort auf die Frage, warum der Schwarze Tod in Europa so reiche Ernte halten konnte, liegt in dem Umstand, dass die Jahrzehnte zuvor eine geschwächte Bevölkerung mit geminderter Resistenz bereiteten. Möglicherweise spielt die Große Hungerkrise von 1315–1322 als «Mutter aller Krisen» eine Rolle, denn Hungerstress in der Kindheit bewirkt lebenslang eine größere Anfälligkeit für Krankheiten. Die klimatische Ungunst der 1330er Jahre betraf die gesamte nördliche Hemisphäre. Zu diesem Zeitpunkt herrschte große Unruhe unter den mongolischen Stämmen. Sie rückten gegen China vor und haben zur Verbreitung der Pest beigetragen. Massenbestattungen in Westchina sprechen dafür, dass die Ausbreitung der großen Pest in China ihren Anfang nahm und sich von dort entlang der Seidenstraße verbreitete. In Europa war der neuen Seuche der Boden bereitet: 1346 war ein ausgesprochen kaltes Jahr, in dem es bis Juni kaum wärmere Abschnitte gab. Bereits am 22. September fiel wieder ungewöhnliche Kälte ein, und die noch unreifen Trauben an Main, Rhein und Mosel erfroren. 1347 war so niederschlagsreich, dass sich Blüte und Ernte verspäteten. Nicht einmal der Hafer konnte eingebracht werden, der Wein dieses Jahres war untrinkbar und bereits im Oktober fiel Schnee.
Dies war die Situation, in der die Große Pest Europa erreichte. Zunächst verbreitete sich die Seuche unter den Tataren. Als diese 1346 die genuesische Stadt Caffa auf der Krim belagerten, schossen sie mit Katapulten Pestleichen in die Stadt – ein frühes Beispiel biologischer Kriegführung. Von Caffa aus gelangte die Pest 1347 mit genuesischen Schiffen nach Italien. Über Marseille kam sie im Januar 1348 nach Avignon, Sitz des Papstes Clemens VI. (1292–1352, r. 1342–1352), von dessen Leibarzt Guy de Chauliac (gest. 1368) sie erstmals sachkundig beschrieben wird. Von Bordeaux aus verbreitete sich die Seuche im Juni über mehrere Häfen nach England und Nordfrankreich. Paris erreichte sie im August 1348 und noch im selben Jahr Bergen in Norwegen. Nach Deutschland kam die Pest entweder auf dem Landweg oder über die Hafenstädte an der Nordsee. In Hamburg und anderen Küstenstädten forderte die Epidemie 1350 die schwersten Opfer. Allerdings scheinen Süddeutschland und Böhmen von der Krankheit verschont geblieben zu sein. Dasselbe gilt für Teile Schwedens und Finnlands sowie für Island und Grönland.
In den italienischen Städten gab es dagegen allenthalben viele Opfer. Venedig, wo die Krankheit seit März 1348 wütete, verlor mehr als die Hälfte seiner Einwohner, beinahe ebenso viele Florenz. Die Krankheit war für die Betroffenen völlig neuartig, wie der Arzt Gentile da Foligno in seinem Traktat betonte. Vermutlich war es diese Neuheit im Zusammenspiel mit der vorhergegangenen Schwächung des Immunsystems, die der Pest nach vielen Jahrhunderten der Abwesenheit in Europa zu so großer Wirksamkeit verhalf. Nach neuesten Schätzungen fielen ihr 30 % aller Einwohner zum Opfer, wobei die regionalen Mortalitätsraten zwischen 10 % und 60 % lagen. Kein anderes Ereignis in der europäischen Geschichte hatte ähnliche Folgen.

Zitiert aus [8].


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