Der Gesunde Menschenverstand

gesundermenschenverstandDas Unglaubliche muss nicht immer das Unmögliche sein. Die moderne Wissenschaft zeigt, dass hinter dem einfachen Sichtbaren, das unser »gesunder Menschenverstand« begreifen und unsere Sprache beschreiben kann, das weder zu begreifende, noch anschaulich zu beschreibende Unsichtbare lauert. Weder ein Stern noch eine Blattlaus haben im Grunde auch nur das Geringste mit der Vorstellung zu tun, die wir uns davon machen. Wer glaubt, eine Parkbank etwa sei ein solides Objekt, auf dem man sich gemütlich niederlassen und in beschaulicher Ruhe spielende Kinder beobachten könnte, irrt sich gewaltig. De facto ist sie ein unvorstellbares System, das zu 99,9999… Prozent aus Nichts und zu einem verschwindenden Rest aus einer Verunreinigung – der Materie besteht, die ihrerseits wieder aus schemenhaften Materiewellen gebildet wird, die sich jeglichem Zugriff entziehen. Genau genommen ist besagte Parkbank überhaupt nur ein Schlagschatten aus dem Hyperraum, eine lokale Irregularität der Raum-Zeit-Geometrie oder was immer man nach der jeweiligen Theorie auswählt. Wem solche Vorstellungen Kopfschmerzen bereiten, der möge sich damit trösten, dass wir, die wir über derartige Konzepte nachdenken, um keine Spur substantieller sind. Das Frappierende an diesen Denkmodellen ist: sie funktionieren. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit – und nicht die von Ursache und Wirkung – haben im subatomaren Bereich das Sagen. Sie – und kein mechanistisches, vorausberechenbares Weltmodell sind verantwortlich dafür, dass die Sterne leuchten, Strom fließt, Eisen zuerst rot- und dann weißglühend wird, und für zahllose andere Phänomene, die wir wahrnehmen und praktisch anwenden können. Spätestens jetzt werden sich viele Leser wohl nicht des Gefühls erwehren können, dass manchen Theoretikern die Pferde durchgegangen sind. Ein so absurder Ort kann das Universum einfach nicht sein. Leider doch.

Viktor Farkas
Unerklärliche Phänomene jenseits des Begreifens

Leider wird das, was mancherorts als »gesunder Menschenverstand« gilt, nicht automatisch überall so gesehen. Die Vorstellung davon ist oft weniger von der menschlichen Natur geprägt als von den Sitten und Überzeugungen einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit. Die Stammesgesellschaft der Fang im vormodernen Äquatorialguinea hielt es für selbstverständlich, dass man sich den Geist und die Stärke seines Feindes aneignen könne, indem man ihn verspeist. Was den gesunden Menschenverstand ausmacht, kann sich durch die Zeitläufe ändern. Die Ethik-Lehrbücher für Philosophiestudenten zu Beginn des 20. Jahrhunderts enthielten oft ein Anfangskapitel über die auf »gesundem Menschenverstand« beruhende Ansicht, moralische Werte seien objektive Tatsachen. Auch die heutigen Lehrbücher enthalten ein solches Einführungskapitel, nur dass diese Ansicht jetzt lautet, ethische Fragen seien eine Sache der subjektiven Meinung. Ob eine bestimmte Überzeugung wirklich Teil der menschlichen Natur ist, lasse sich nur klären, wenn man herausfände, ob alle Menschen zu allen Zeiten wirklich diese Überzeugung geteilt haben. Und selbst dann noch könnten in der Zukunft manche Menschen anderer Auffassung sein. In früheren Zeiten hat uns der gesunde Menschenverstand weisgemacht, Insekten würden aus Schmutzpartikeln entstehen, der menschliche Körper könne einer Geschwindigkeit, wie sie von Dampflokomotiven erzeugt wird, nicht standhalten, und die Erde sei eine flache Scheibe im Mittelpunkt des Universums.
Nicholas Fearn
Denken wie Diogenes
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Alle Menschen tragen ein Sortiment von Wörtern mit sich herum, das sie zur Rechtfertigung ihrer Handlungen, Überzeugungen und ihres Lebens einsetzen. Es sind die Wörter, in denen wir das Lob unserer Freunde, die Verachtung für unsere Feinde, unsere Zukunftspläne, unsere innersten Selbstzweifel und unsere kühnsten Hoffnungen formulieren. Mit diesen Wörtern erzählen wir, manchmal vorausgreifend und manchmal rückwärtsgewandt, unsere Lebensgeschichte. Ich werde sie das »abschließende Vokabular« einer Person nennen.
  • […] »Ironikerin« werde ich eine Person nennen, die drei Bedin­gungen erfüllt: (1) sie hegt radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular, das sie gerade benutzt, weil sie schon durch andere Vokabulare beeindruckt war, Vokabulare, die Menschen oder Bücher, denen sie begegnet ist, für endgültig nahmen; (2) sie erkennt, daß Argumente in ihrem augenblicklichen Vokabular diese Zweifel weder bestätigen noch ausräumen können; (3) wenn sie philosophische Überlegungen zu ihrer Lage anstellt, meint sie nicht, ihr Vokabular sei der Realität näher als andere oder habe Kontakt zu einer Macht außerhalb ihrer selbst. Ironikerinnen, die einen Hang zur Philosophie haben, meinen weder, daß die Entscheidung zwischen Vokabularen innerhalb eines neutralen und allgemeinen Meta-Vokabulars getroffen wird, noch daß sie durch das Bemühen gefunden wird, sich durch die Erscheinungen hindurch einen Weg zum Realen zu bahnen, sondern daß sie einfach darin besteht, das Neue gegen das Alte auszuspielen.
  • […] Das Gegenteil von Ironie ist gesunder Menschenverstand. Denn er ist die Parole derer, die alles Wichtige unbefangen in Begriffen des abschließenden Vokabulars beschreiben, das sie und ihre Umgebung gewohnt sind. Gesunden Menschenverstand haben heißt selbstverständlich finden, daß Erklärungen in der Sprache dieses abschließenden Vokabulars ausreichen, um Überzeugungen, Handlungen und das Leben derer, die alternative abschließende Vokabulare benutzen, zu beschreiben und zu beurteilen. Wer stolz auf seinen gesunden Menschenverstand ist, wird den Gedankengang abstoßend finden, der im ersten Teil dieses Buches*) vorgestellt wurde.
Richard Rorty
Kontingenz, Ironie und Solidarität

*) Anm.: der erste Teil des zitierten Buches trägt die Überschrift „Kontingenz der Sprache

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