Yourcenar über die Freiheit
„Man ist nicht frei, solange man Wünsche hat, solange man etwas will, etwas fürchtet, vielleicht solange man lebt. Die lästige Hülle, die gewaschen, gefüttert, im Ofenwinkel oder unter dem Fell eines toten Tieres erwärmt, abends wie ein Kind oder ein blöder Alter ins Bett gebracht werden mußte, dient wider Willen der gesamten Natur und, schlimmer noch, der Gesellschaft der Menschen als Geisel.“
Marguerite Yourcenar „Die schwarze Flamme”.
Roman („L’Oeuvre au Noir“).
Dtv, München 2003
Man ist nicht frei, solange man Wünsche hat, solange man etwas will, etwas fürchtet, vielleicht solange man lebt, sagt Frau Yourcenar. Man fühlt sich nur dann frei, wenn wir unsere Grund-Bedürfnisse befriedigen können, steht hier im Blog. Ist „Man“ denn dann nicht nur der Geist oder Wille, den es ohne den Körper und seine Bedürfnisse gar nicht gäbe? Damit beißt sich doch die Katze „Freiheit“ in den Schwanz!
Naja, der Begriff (absoluter) Freiheit, der von Frau Yourcenar – unterschwellig – gedacht wird, würde bedeuten, dass man, um „frei“ zu sein, auch frei von sich selbst, seinem Körper, sein müsste.
Sinnliche Erfahrungen kann ich jedoch nur durch die (Sinnes-)Organe des Körpers machen, der Geist oder Verstand ordnet ihm Bedeutungen hinsichtlich meines Wohl oder Wehe zu, um mit meinem Körper angemessen darauf reagieren zu können. Ohne sinnliche Erfahrungen des Körpers wäre mein Gehirn nur eine Daten verarbeitende Maschine, für die diese Daten vollkommen ohne Belang für sie selbst, ohne Glückszustände aber auch ohne Leid wären. Warum sollte dann dieses Gehirn für „Die Seele“ belanglose Daten (Wahrnehmungen, Seelenzustände, Handlungsmuster) verarbeiten?
Nur die Gedanken sind frei, so fanden wir es schon im Beitrag „Dialiektik der Wahrheit” heraus: „Es gibt nichts, was wir uns nicht vorstellen könnten. So absurd und unglaublich ein Gedanke auch sein mag, so sehr er jeder Logik und jedem Naturgesetz widerspricht oder der Menschheit als nutzlos erscheint – in dem Moment, in dem er gedacht wurde, ist er wahr geworden!“
Aber wenn wir daran denken, was wir selbst tun sollten, dann sind die Gedanken egoistisch, auf den eigenen Vorteil bedacht, selbst wenn sie den Umweg über Altruismus und Nächstenliebe nehmen.
Es geht nicht darum, das Ego zu heilen, sondern davon zu genesen, nicht darum, das Ich zu erlösen, sondern sich davon zu befreien. Jedes Ego ist abhängig, immer. Wenn es keine Abhängigkeit mehr gibt, gibt es kein Ego mehr. Philosophieren heißt, sich lösen lernen.
André Comte-Sponville:
Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott.
Zürich 2008, S. 219
Nun folgt das vollständige Zitat aus dem historischen Roman „Die schwarze Flamme”:
„Früher hatte er [Zenon] sich mit Johannes Myers über die Frömmler lustig gemacht, die in der menschlichen Maschine den Beweis für das Wirken Gottes sahen, doch die Achtung der Atheisten für dieses zufällige Meisterwerk, das die menschliche Natur in ihren Augen ist, erschien ihm jetzt ebenso lächerlich. Dieser an dunklen Fähigkeiten so reiche Körper war unvollkommen; in seinen kühnen Stunden hatte er sich in den Traum versponnen, einen vollkommeneren Automaten zu ersinnen, als wir es sind. Vor seinem inneren Auge hatte er das Fünfeck unserer Sinne durch und durch erforscht und gewagt, andere weisere Konstruktionen zu entwerfen, in deren Spiegel sich das Licht des Universums vollkommener brechen würde. Die Aufzählung der neun Pforten der Wahrnehmung, die in der Undurchdringlichkeit des Körpers geöffnet sind, welche Darazi ihm einst mit seinen gelblichen Fingern gegeben hatte, war ihm zunächst als der plumpe Versuch einer halb barbarischen anatomischen Klassifikation vorgekommen; doch sie hatte ihn auf die Unsicherheit der Kanäle aufmerksam gemacht, von denen wir abhängig sind, um zu erkennen und zu leben. Unsere Unzulänglichkeit war derart, daß man nur zwei enge Durchgänge zu verstopfen brauchte, um die Welt der Laute zu verschließen, und zwei andere Zugangswege, damit es Nacht würde. Man braucht nur drei dieser Öffnungen – und sie liegen so nahe beieinander, daß eine Handfläche sie mühelos bedecken kann – mit einem Knebel zu verstopfen, und schon ist es um dieses Tier geschehen, dessen Leben an einem Atemzug hängt. Diese lästige Hülle, die gewaschen, gefüttert, im Ofenwinkel oder unter dem Fell eines toten Tieres erwärmt, abends wie ein Kind oder ein blöder Alter ins Bett gebracht werden mußte, diente wider Willen der gesamten Natur und, schlimmer noch, der Gesellschaft der Menschen als Geisel. An diesem Fleisch und dieser Haut würde er vielleicht die Schrecken der Folter erleiden; die Erschlaffung dieser mechanischen Kräfte würde ihn eines Tages daran hindern, die geplante Idee gebührend zu Ende zu führen. Wenn das Wirken seines Geistes, den er einfachheitshalber von seiner übrigen Materie trennte, bisweilen anrüchig erschien, so vor allem deswegen, weil dieser gebrechliche Geist von den Diensten des Leibes abhängig war. Er war dieser Mischung aus unruhigem Feuer und dickem Lehm überdrüssig. Exitus rationalis: eine Versuchung, ebenso gebieterisch wie der Kitzel des Fleisches, überkam ihn; ein Ekel, vielleicht eine Eitelkeit, trieb ihn, die Geste auszuführen, die alles beschließt. Er schüttelte ernst den Kopf wie vor einem Kranken, der zu früh nach Medizin oder Nahrung verlangte. Es würde immer noch Zeit sein, mit dieser beschwerlichen Stütze unterzugehen oder ohne sie ein unstoffliches und unvorhersehbares Leben weiterzuführen, das nicht unbedingt mehr Vorteile bieten mußte als das, welches wir im Fleische führen.
Unerbittlich, fast widerwillig zwang sich dieser Reisende am Ende eines Abschnitts von mehr als fünfzig Jahren zum ersten Mal in seinem Leben, die zurückgelegten Wege im Geiste nachzuzeichnen, wobei er das Zufällige vom Vorsätzlichen oder Notwendigen schied und sich bemühte, das wenige, das aus ihm selbst zu kommen schien, von dem zu trennen, was untrennbar zu seinem Los als Mensch gehörte. Nichts war so, wie er es zuerst gewollt oder im vorhinein gedacht hatte, zuweilen war es dem vollkommen entgegengesetzt. Der Irrtum entstand mal aus der Wirkung eines Elements, dessen Vorhandensein er nicht geahnt hatte, mal aus einem Versehen in der Berechnung der Zeit, die sich als kürzer oder länger erwies, als auf den Uhren angegeben war. Mit zwanzig Jahren hatte er sich frei von Gewohnheiten oder Vorurteilen geglaubt, die unsere Handlungen lähmen und dem Verstand Scheuklappen aufsetzen, aber dann hatte er sein Leben damit verbracht, sich diese Freiheit, die er am Anfang schon ganz zu besitzen geglaubt hatte, Heller um Heller anzueignen. Man ist nicht frei, solange man Wünsche hat, solange man etwas will, etwas fürchtet, vielleicht solange man lebt. Als Arzt, Alchimist, Feuerwerker oder Astrologe hatte er wohl oder übel die Montur seiner Zeit getragen; er hatte es zugelassen, daß das Jahrhundert seinem Intellekt bestimmte Wendungen aufprägte. Weil er das Unwahre haßte und einen herben Charakter hatte, hatte er sich in Meinungsstreitigkeiten eingelassen, in denen ein kraftloses Ja auf ein törichtes Nein antwortete. Dieser umsichtige Mann hatte sich dabei ertappt, die Verbrechen noch abstoßender, den Aberglauben der Republiken oder der Fürsten noch törichter zu finden, wenn sie sein Leben bedrohten oder seine Bücher verbrannten; umgekehrt hatte er manchmal das Verdienst eines Dummkopfes mit Bischofsmütze, Krone oder Tiara, dessen Gunst ihm erlaubt hätte, von Ideen zu Taten zu schreiten, zu hoch veranschlagt. Das Verlangen, wenigstens ein Segment der Natur der Dinge zu ordnen, zu verändern oder zu beherrschen, hatte ihn ins Schlepptau der Großen dieser Welt gezogen, und er hatte hier und da Kartenhäuser errichtet oder Luftschlösser gebaut. Er rechnete nun mit seinen Hirngespinsten ab. Im Sultanspalast hatte ihm die Freundschaft des mächtigen und unglücklichen Ibrahim, des Wesirs Seiner Hoheit, Hoffnungen gemacht, seinen Plan, die Sümpfe in der Umgebung von Adrianopel trokkenzulegen, erfolgreich ausführen zu können; eine sinnvolle Reform des Hospitals der Janitscharen hatte ihm am Herzen gelegen; auf Grund seiner Bemühungen hatte man hier und da mit dem Rückkauf von kostbaren Handschriften griechischer Ärzte und Astronomen begonnen, die einst von arabischen Gelehrten erworben worden waren und unter vielem Unnützen manchmal eine Wahrheit enthielten, die wiederzuentdecken sich lohnte. Vor allem war da ein gewisser Dioskorides gewesen, der noch ältere Fragmente des Krateuas enthielt und sich zufällig im Besitz des Juden Hamon, seines Kollegen im Dienste des Sultans, befand . . . Aber der blutige Sturz von Ibrahim hatte all dies mit fortgerissen, und der Ekel, den dieser Schicksalsschlag nach so vielen anderen ihm verursacht, hatte sogar seine Erinnerung an diese ersten mißliebigen Unternehmungen getilgt. Er hatte mit den Schultern gezuckt, als die kleinmütigen Bürger von Basel sich schließlich geweigert hatten, ihm einen Lehrstuhl zu bewilligen, weil sie von den Gerüchten erschreckt waren, die aus ihm einen Sodomiten und Zauberer machten. (Er war seinerzeit das eine wie das andere gewesen, aber die Worte entsprachen den Dingen nicht, sie gaben nur die Meinung wieder, die sich die Menge von solchen Dingen machte.) Trotzdem war ihm noch lange Zeit ein galliger Geschmack in den Mund gekommen, wenn man diese Leute auch nur erwähnte. In Augsburg war er zu seinem großen Bedauern zu spät eingetroffen, um von den Fuggern einen Posten als Minenarzt zu bekommen, der es ihm ermöglicht hätte, die Krankheiten der Arbeiter zu beobachten, die unter Tage arbeiten und den starken metallischen Einflüssen von Saturn und Merkur ausgesetzt sind. Er hatte dort mögliche Heilverfahren und unerhörte Kombinationen vermutet. Und gewiß, er sah recht gut, daß diese Ambitionen nützlich gewesen waren, da sie seinen Geist sozusagen von einem Ort zum anderen befördert hatten; es ist besser, sich nicht zu früh dem ewigen Stillstand zu nähern. Nachträglich besehen, erschien ihm dieses Treiben dennoch wie ein Sandsturm.
Ebenso verhielt es sich mit dem komplizierten Bereich sinnlicher Freuden. Diejenigen, denen er den Vorzug gegeben hatte, gehörten zu den heimlichsten und gefährlichsten, zumindest in christlichen Landen und zu der Zeit, in der er zufällig auf die Welt gekommen war; vielleicht hatte er sie nur gesucht, weil das Verbergen und die Verbote daraus einen wilden Bruch mit den Sitten machten, ein Hinabtauchen in die Welt, die unter dem Sichtbaren und Erlaubten brodelt. Oder vielleicht rührte diese Wahl von einem ebenso einfachen und ebenso unerklärlichen Begehren her, wie das, das einen eher eine Frucht statt einer anderen wählen läßt: das scherte ihn wenig. Wesentlich war, daß seine Ausschweifungen wie seine Ambitionen im ganzen selten und kurz gewesen waren, als ob es in seiner Natur läge, das, was die Leidenschaften lehren oder geben konnten, schnell auszuschöpfen. Dieses seltsame Magma, das die Prediger mit dem nicht schlecht gewählten Wort Fleischeslust bezeichnen (denn es handelt sich durchaus, so scheint es, um ein Schwelgen des Fleisches, das seine Kräfte verausgabt), trotzte einer Untersuchung durch die Mannigfaltigkeit der Substanzen, aus denen es besteht und die sich ihrerseits in andere, nicht ganz einfache Bestandteile auflösen. Die Liebe war daran viel seltener beteiligt, als man vielleicht sagte, aber die Liebe war selbst kein reiner Begriff. Diese sogenannte niedrige Welt stand mit dem Auserlesensten in der menschlichen Natur in Verbindung. Ebenso wie der krasseste Ehrgeiz noch ein Traum des Geistes war, der sich bemüht, die Dinge zu ordnen und zu verändern, machte sich das Fleisch in seinen Kühnheiten die Neugier des Geistes zu eigen und phantasierte, wie der Geist es zu tun beliebt; der Wein der Wollust zog seine Kraft aus den Säften der Seele ebenso wie aus denen des Körpers. Nur allzuoft und unbegründet hatte er die Begierde nach einem jungen Körper in seiner Phantasie mit dem vergeblichen Plan verbunden, sich eines Tages den vollkommenen Schüler zu formen. Andere Gefühle, die eingestandenermaßen alle Menschen empfinden, waren dazugekommen. Bruder Juan in Léon und Francois Rondelet in Montpellier waren Brüder gewesen, die er früh verloren hatte, für seinen Diener Ali und später für Gerhart in Lübeck hatte er wie ein Vater für seine Söhne gesorgt.
Diese so verfänglichen Leidenschaften waren ihm wie ein unveräußerlicher Teil seiner menschlichen Freiheit erschienen; jetzt fühlte er sich frei ohne sie.”
aus
„Die schwarze Flamme“
von Marguerite Yourcenar
zitiert
Der Verlag über den Roman von Marguerite Yourcenar:
Der Alchimist, Arzt und Philosoph Zenon, der im 16. Jahrhundert lebt und wirkt, trägt die Züge der bedeutendsten Gelehrten und Künstler seiner Zeit: Erasmus von Rotterdam, Leonardo da Vinci und Paracelsus. Er sprengt die Grenzen seiner Zeit, gerät durch seine kühnen naturwissenschaftlichen Experimente und freidenkerischen Schriften in Konflikt mit Kirche und Gesetz und wird schließlich tragisch dafür büßen. Marguerite Yourcenar verschmilzt die Historiographie mit dem Roman und erweist sich ebenso wie in ihrem berühmten Roman Ich zähmte die Wölfin als »Meister einer Gattung, die es vor ihr nicht gab«. LE MONDE.