J. S. Bach: Leipziger Choräle
Die Achtzehn Choräle von verschiedener Art, auch Leipziger Choräle genannt, stellte Johann Sebastian Bach in seinen letzten Lebensjahren zusammen, da er die Absicht hatte, sie drucken zu lassen. Diese Sammlung umfasst Choralbearbeitungen für Orgel mit zwei Manualen und Pedal. Bach wählte Sätze aus ganz verschiedenen Lebensphasen aus, wobei davon auszugehen ist, dass zahlreiche Arbeiten dieser Kollektion aus der Weimarer Zeit datieren. Die Aufnahme der Arbeiten in die Zusammenstellung nutzte Bach, um an ihnen Verbesserungen vorzunehmen. Die Schrift dieses Manuskripts wird zunehmend unsicher. Auch hier finden wir wieder die Anzeichen eines allmählich einsetzenden Verlusts des Augenlichts. Die letzten drei Sätze wurden nicht mehr von Johann Sebastian Bach selbst eingetragen, sondern von dessen Schwiegersohn und Schüler Johann Christoph Altnickol.
Wie ich die Leipziger Choräle musikalisch verstehe, kann man sich in den Videos anhören. Ich habe diese Leipziger Choräle mit Samples der historischen Orgel in Forcalquier eingespielt. Ich empfehle zum Anhören gute Kopfhörer mit hohem Dynamikumfang. Was darüber hinaus über diese Leipziger Choräle zu sagen wäre kann man in den drei folgenden Zitaten lesen :
Albert Schweitzer schrieb in seiner Bachbiografie „Johann Sebastian Bach“ über die „Leipziger Choräle“
Ganz anders verhält es sich mit der letzten Sammlung, den »Achtzehn Chorälen«. Sie enthält zum größten Teil Kompositionen aus der Weimar-Cöthenschen Zeit, die Bach am Ende seines Lebens revidierte und zum Teil überarbeitete. Zwar behauptet Rust in der Vorrede zu B. G. XXV entgegen Spitta, daß sie aus der Leipziger Periode stammen, dürfte aber damit kaum im Rechte sein. Es handelt sich also um Meisterwerke, die Bach in engerer oder freierer Anlehnung an die von Buxtehude, Böhm und Pachelbel aufgestellten Formen schuf. Der Typus der Choräle des Orgelbüchleins ist darin nicht vertreten.
Wie Bach an diesen Werken gefeilt hat, ersieht man aus fünfzehn älteren Lesarten, die sich noch erhalten haben. Das Autograph der »Achtzehn Choräle« befindet sich auf der Berliner Bibliothek. Es stammt aus dem Nachlaß von Philipp Emanuel. Der letzte Choral »Wenn wir in höchsten Nöten sein« (Vor deinen Thron tret’ ich hiermit) ist im Autograph unvollständig und muß nach der Kunst der Fuge ergänzt werden, in der er als Bachs letztes Werk erschien. Auch hier ist zu bedauern, daß man die von Bach revidierten Choräle, ohne seinen letzten Willen zu achten, nur um der lieben alphabetischen Reihenfolge willen, immer unter die andern mischt, wenn auch die Zusammenstellung hier nicht, wie in den beiden andern Sammlungen, durch einen bestimmten Gedankengang beherrscht wird.
Das Trio über »Nun komm der Heiden Heiland« (Nr. 10, BWV 660) macht einen so fremdartigen Eindruck, daß es wie eine Transkription eines Stückes aus einer Kantate anmutet. Streng im alten Pachelbelschen Stil ist die eckige Bearbeitung von »Nun danket alle Gott« (Nr. 7, BWV 657), die Spieler und Hörer bei näherer Vertrautheit nur immer lieber gewinnen können. Rein in Böhmscher Art gearbeitet ist der Choral »Allein Gott in der Höh sei Ehr« (Nr. 12, BWV 662), der in manchem einen ziemlich jugendlichen Eindruck macht. Im Vorspiel über »Nun komm der Heiden Heiland« (Nr. 9, BWV 659), das genau so angelegt ist, erscheint die arabeskenartige Auflösung der Melodie viel vollendeter und durchgeistigter. Es liegt wirklich erwartungsvolles Dahinträumen in diesem Stück.
Dieselbe vollendete und idealisierte Böhmsche Kunst offenbart der Choral »An Wasserflüssen Babylon« (Nr. 3, BWV 653), in welchem die Melodie im Tenor geführt wird. An Buxtehude erinnern: die Bearbeitung von »Jesus Christus, unser Heiland« (Nr. 16, BWV 666), das glänzend dahinrauschende Stück über »Komm, heilger Geist, Herre Gott« (Nr. 2, BWV 652), die Choräle »Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist« (Nr. 17, BWV 667) und »Von Gott will ich nicht lassen« (Nr. 8, BWV 668).
Die bedeutendsten Stücke dieser Sammlung aber lassen keinen reinen Typus mehr erkennen. Es sind großangelegte Phantasien mit freier motivischer Benutzung einer oder mehrerer Choralzeilen. Aus dem Nebeneinander der Gestalten ist in Bachs Geist etwas Einheitliches entstanden, das die festen Umrisse der alten Formen nur noch wie durch einen feinen, blauen Nebel durchschimmern läßt. Man könnte diese Choralform geradezu die mystische nennen. Die Choralmotive werden umschleiert, die Melodie aufgelöst, als sollte alles Äußere versinken und nur die allgemeine Stimmung, die tiefste Gefühlsidee zur Darstellung gelangen. In dieser Art bilden die Choräle »Allein Gott in der Höh sei Ehr« (Nr. 13, BWV 663), »Komm heilger Geist, Herre Gott« (Nr. 2, BWV 652) und »Schmücke dich, o liebe Seele« (Nr. 4, BWV 654) eine Kategorie für sich. Von der Stimmungsmalerei in diesem letzteren Choral wurde Mendelssohn so ergriffen, daß er zu Schumann äußerte, »wenn das Leben ihm Hoffnung und Glauben genommen, so würde ihm dieser einzige Choral alles von neuem bringen«.
Der Tripelchoral über »O Lamm Gottes« (Nr. 6, BWV 656) und die Bearbeitung von »Jesus Christus unser Heiland« (Nr. 16, BWV 665) stellen den Gedanken mehr nach der dramatischen Seite hin dar. Bei diesen Schöpfungen ist man fast versucht, Rust gegen Spitta recht zu geben, und sie in die Leipziger Zeit zu versetzen.
Die Vertonung der Hymne »Vor deinen Thron tret’ich hiermit« (»Wenn wir in höchsten Nöten sein«) war Bachs letztes Werk. Auf seinem Totenbett diktierte er es seinem Schwiegersohn. “Vor deinen Thron tret’ ich hiermit, O Gott, und dich demütig bitt’: wend’ dein genädig Angesicht von mir dem armen Sünder nicht.” Schweitzer beschreibt die Szene:
Die letzte Zeit scheint er ganz im verdunkelten Zimmer zugebracht zu haben. Als er den Tod nahen fühlte, diktierte er Altnikol eine Choralphantasie über die Melodie “Wenn wir in höchsten Nöten sein,” hiess ihn jedoch als Überschrift den Anfang des Liedes “Vor deinen Thron tret ich allhier,“ das nach derselben Weise gesungen wird, zu setzen. In der Schrift sind alle Ruhepunkte, die sich der Kranke gönnen musste, abzulesen; die versiegende Tinte wird von Tag zu Tag wässriger; die in Dämmerlicht bei dicht verhangenen Fenstern geschriebenen Noten sind kaum zu entziffern.
Im dunkeln Zimmer, schon von Todesschatten umspielt, schuf der Meister dieses Werk, das selbst unter den seinen einzig dasteht. Die kontrapunktische Kunst, die sich darin offenbart, ist so vollendet, dass keine Schilderung mehr einen Begriff von ihr geben kann. Jeder Melodieabschnitt wird in einer Fuge behandelt, in welcher die Umkehrung des Themas jedesmal als Gegenthema figuriert. Dabei fliessen die Stimmen so natürlich einher, dass man schon nach der zweiten Zeile die Kunst nicht mehr gewahr wird, sondern ganz unter dem Banne des Geistes steht, der aus diesen G dur-Harmonien redet. Das Weltgetümmel drang durch die verhängten Fenster nicht mehr hindurch. Den sterbenden Meister umtönten bereits Sphärenharmonien. Darum klingt kein Leid mehr in seiner Musik nach; die ruhigen Achtel bewegen sich schon jenseits jeglicher Menschenleidenschaft.
Maarten ’t Hart schreibt in „Bach und ich“:
Unumstrittener Höhepunkt der Achtzehn Choräle (BWV 651—668) ist »Nun komm, der Heiden Heiland« (BWV 659). Ausnehmend schön sind auch die Choralvorspiele »An Wasserflüssen Babylon« (BWV 653) und »Schmücke dich, o liebe Seele« (BWV 654). Das letztere war eines der Lieblingsstücke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Unter den achtzehn Choralbearbeitungen finden sich auch drei Trios (BWV 655, 660 und 664). Sie sind schwer zu spielen, doch erfreulicherweise gibt es neben den sechs Triosonaten noch eine Anzahl vergleichbarer Kompositionen. Ich selbst habe eine Schwäche für »Von Gott will ich nicht lassen«, das mein Orgellehrer zu monoton fand. Wenn man das Stück mit einem Sechzehn-Fuß-Register unterlegt, klingt es unerwartet schwermütig durch die Kirche. Glänzend auch die Fantasia »Komm, Heiliger Geist«. Wieder solch ein Stück, in dem Bach nicht aufhören kann.
Andreas Kruse nähert sich in seinem Buch „Resilienz bis ins hohe Alter – was wir von Johann Sebastian Bach lernen können. Für alle Interessierten“ von der psychologischen Seite dem Leben und Werk von Johann Sebastian Bach. In Kapitel 7, überschrieben mit „Vor Deinen Thron tret ich hiermit“: Zusammenführung psychologischer Themen Johann Sebastian Bachs am Ende seines Lebens schreibt er:
Mit dem „Leben als Werk“, aber eben auch den geschaffenen Kompositionen stehen wir im Zentrum der Ich-Integrität (Erikson 1998), die auf der Fähigkeit und Bereitschaft beruht, das eigene Leben, so wie es war, so wie es sich aktuell darstellt, annehmen zu können – wobei der von Henning Luther (1992) eingeführte Aspekt des „Lebens als Fragment“ einen bedeutenden Hinweis auf den Kern der Ich-Integrität gibt: Diese meint nämlich nicht eine frei von Ambivalenz und Zweifeln erreichte und ausgedrückte Lebenshaltung (worauf übrigens auch Erik Homburger Erikson ausdrücklich hingewiesen hat), sondern vielmehr eine Lebenshaltung, in der sowohl Erreichtes als auch Unerreichtes, in der sowohl Zeiten des Glücks als auch des Unglücks, in der sowohl Freude als auch Leid, in der sowohl verwirklichte als auch enttäuschte Hoffnungen repräsentiert sind, die aber von der Überzeugung getragen ist, dass das Leben, so wie es sich vollzogen hat, so wie es gestaltet wurde, letztlich ein gutes gewesen ist: Das Leben als Werk (Kruse, 2012). In der Entwicklung einer solchen Lebenshaltung ist ein wichtiges schöpferisches Moment des Menschen zu sehen. Im Leben Johann Sebastian Bachs finden sich viele Beispiele für Erreichtes und Unerreichtes, für Zeiten des Glücks und des Unglücks, für Freude und Leid, für verwirklichte und enttäuschte Hoffnungen. Bei einer Gesamtschau dieses Lebens wird deutlich, wie sehr es Johann Sebastian Bach gelungen ist, dieses schöpferische Potenzial bis an das Ende des Lebens zu verwirklichen: und dies in seinem Werk ebenso wie in seiner Lebensführung. So stellen wir die psychologische Coda unter die Überschrift des Menschen in seiner Geschöpflichkeit, damit zum Ausdruck bringend, dass uns das Leben von Gott geschenkt ist, dass dieses Leben ein verletzliches, ein endliches ist, dass wir in der Hoffnung und Erwartung leben, im Tod zu unserem Ursprung zurückzukehren, dass wir Dank empfinden für die schöpferischen Potenziale, die uns geschenkt sind, und dass wir in der Weitergabe der Ergebnisse schöpferischen Handelns an andere Menschen sowohl eine Ausdrucksform dieses Dankes als auch der erlebten Mitverantwortung für die Welt finden.
Am 12. April 2016 eine Neubearbeitung des Chorals „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit“ BWV 668 hinzugefügt.