Mein Konfirmationsspruch

Ich wurde in der Gehauser Dorfkirche von Pfarrer Seckel am 5. Juli 1942 getauft, und am 25. März 1956 von Pfarrer Phieler konfirmiert. Auf den Weg gab mir Pfarrer Phieler den Spruch

»Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«
(Psalm 111, Vers 10).

Ich als 14jähriger Konfirmant Knapps Gerd und ich werden von Pfarrer Göhring bei der Goldenen Kinfirmation eingesegnet

Inzwischen hat unsere Schulklasse am 5. Juni 2016 die diamantene Konfirmation gefeiert, die Bilder der noch lebenden Schulkameraden bei der Konfirmation und dem anschließenden gemütlichem Beisammensein in Stadtlengsfeld gibt es hier

Diamantene Komfirmation 05. Juni 2016

und in diesem Video

zu sehen.

Lange Zeit glaubte ich, die Furcht des Herrn sei die Furcht Gottes vor seiner Schöpfung und deshalb habe er die Weisheit in die Welt gesandt: damit sich die Schöpfung nicht selbst venichte in ihrer Dummheit und Hoffart. So falsch ist das vielleicht gar nicht gedacht, betrachtet man die Geschichte der menschlichen Dummheit. Hat die Weisheit uns denn schon erreicht? Was ist Weisheit anderes als Demut gegenüber dem Nächsten, die Furcht des Herrn anderes als jene Demut von der Kafka spricht:

„Die Demut gibt jedem, auch dem einsam Verzweifelnden das stärkste Verhältnis zum Mitmenschen und zwar sofort, allerdings nur bei völliger und dauernder Demut. Sie kann das deshalb, weil sie die wahre Gebetsprache ist, gleichzeitig Anbetung und festeste Verbindung. Das Verhältnis zum Mitmenschen ist das Verhältnis des Gebetes, das Verhältnis zu sich das Verhältnis des Strebens; aus dem Gebet wird die Kraft für das Streben geholt.“

Das ist die Weisheit dessen, der ahnt: alleine bin ich nichts und alles, was ich weiß bedarf eines einigenden Glaubens an die kollektive Möglichkeit des Menschen der Schöpfung, bzw. der Evolution des Lebens, einen Sinn zu geben.

Wenn nicht ich für mich bin, wer ist dann für mich?
Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann?
Wenn nicht jetzt – wann sonst?
[Talmud]

Wenn ich Schöpfung und Evolution hier in einen Topf werfe, dann hat das seinen Grund in der Geschichte unserer Menschwerdung. Denn freilich ist davon auszugehen, dass die Kultur des Menschen ihre Wurzeln in seiner biologischen Evolution hat, doch wie das geschah ist durch kausale Beweisketten nicht zu belegen, selbst wenn alles, was geschah, geschieht und geschehen wird mindestens eine Ursache hat, denn die Evolutionsbiologie ist eine historische Wissenschaft, wie auch Geschichtsschreibung, und sie hat eine äußerst dünne empirische Basis, beruht vor allem auf spekulativen Beweisführungen und Plausibilitätsbetrachtungen. Man weiß nicht, wann, wo und wie sich menschliches Sozialverhalten zum ersten Mal entwickelt hat. Es besteht nicht einmal Konsens darüber, wie sich der Mensch physiologisch-anatomisch entwickelt hat – und dies, obwohl Fossilien darüber Aufschluss geben können. Über Aspekte des Verhaltens aber sagen Fossilien nichts aus.
Man weiß nur, dass sich Altruismus und Kooperation als Grundlage des sozialen Verhaltens gegen den von der natürlichen Selektion bevorzugten Eigennutz bei der Menschwerdung etablieren konnten. Der heutige Mensch – seit dem Holozän – verhält sich nicht wie der modellhafte, rational denkende homo oeconomicus sondern überwiegend kooperativ, als homo reciprocans nach dem Grundsatz TIT FOR TAT (wie du mir, so ich dir). Und nur nach den evolutionären Regeln der strengen Reziprozität (Direkte „echte“ Reziprozität) konnte sich überhaupt unsere menschliche Kultur herausbilden.
Homo reciprocans bedeutet allerdings nicht, dass dieser nie egoistisch handeln würde. Solange es dem Prestige innerhalb der sozialen Gruppe nicht schadet – also auch immer dann, wenn er „privat“ ist und sich sicher fühlen kann, dass die Handlung nicht bekannt wird, handelt er egoistisch. Er handelt situationsbedingt, aber selten so rational wie homo oeconomicus, deshalb ist er als soziales Wesen flexibler.
Der symbolische Interaktionismus des Soziologen Herbert Blumer gibt dieser Idee dadurch Ausdruck, dass für ihn menschliche Kultur alleine durch die Wechselwirkungen zwischen handelnden Individuen über Symbole möglich war. Das wichtigste Symbol ist die Sprache, die aus der einzigartigen Fähigkeit des Menschen abstrahieren zu können herrührt, also sich Dinge und Handlungen nur vorzustellen und anderen, ohne dass Dinge oder Handlungen tatsächlich zu sehen oder zu fühlen sind, zu verdeutlichen.

Der große evolutionäre Erfolg unserer menschlichen Kultur beruht vor allem darauf, dass nun Ideen stellvertretend für Menschen selektiert werden und aussterben können.

Da bisher von  trockener Theorie der Evolution die Rede war, nun ein musikalisches Beispiel, wie sie tatsächlich funktioniert:

Physikalische Vorraussetzung ist zunächst, dass sich zunächst ein chaotisches System (chaotische Systeme: zeitlich veränderliche Systeme, also dynamische Systeme, deren Dynamik unter bestimmten Bedingungen empfindlich von den Anfangsbedingungen abhängt, sodass ihr Verhalten nicht längerfristig vorhersagbar ist ) selbst organisiert und im Folgenden durch driftende Anpassung an sich verändernde äußere Bedingungen nicht nur selbst erhält, sondern sich auch in Tochtersystemen reproduziert (Autopoiesis).

Humberto Maturana und Francisco J. Varela sprechen in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis” von der Evolution als „strukturelles Driften bei fortwährender phylogenetischer Selektion. Dabei gibt es keinen «Fortschritt» im Sinne einer Optimierung der Nutzung der Umwelt, sondern nur Erhaltung der Anpassung und Autopoiese in einem Prozess, in dem Organismus und Umwelt in dauernder Strukturkopplung bleiben.“

Evolution begünstigt nicht das „Überleben des Stärkeren“, wie der Sozialdarwinismus behauptet! Entscheidend ist nicht eine wie auch immer ausgeprägte Stärke, sondern die „Fitness“, die sich am besten mit „Eignung“ umschreiben lässt. Die sehr viel stärkeren Dinosaurier hatten keine Chance gegen die damals deutlich schwächeren Säugetiere. Stärke, auch geistige, ist kein Selektionskriterium, kann sogar hinderlich sein. Auch die natürliche Selektion, von der der Sozialdarwinismus behauptet, dass sie in einem von außen herangetragenen und zielgerichteten Ausleseprozess bei Konkurrenz „notwendig“ sei, ist unzutreffend. Richtig ist vielmehr, dass beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen natürliche Selektion zwingend stattfindet, ohne dass dabei ein Zweck verfolgt wird, auch nicht der des Konkurrenzabbaus. Zufällige Mutationen verdrängen die ursprüngliche Art immer dann oder breiten sich in neue Lebensräume aus, wenn sie unter den gegebenen oder neuen Umweltbedingungen die höhere Reproduktionrate aufweisen. Nicht die körperlich oder intellektuell „stärkere“ Art setzt sich gegenüber einer um die gleichen Ressourcen konkurrierenden Art durch, sondern die hinsichtlich der Vermehrung ihrer Art erfolgreichere.

Christian Laue schreibt in „Evolution, Kultur und Kriminalität *)

Wenn der Stärkere sich nach dem biologischen – und dann auch sozialen – Grundgesetz durchsetzt, ist Kampf ein legitimes, ja notwendiges Mittel. Bereits diese verengte Übersetzung, die sich vor allem in Deutschland durchgesetzt hat, legt einen Missbrauch der Evolutionstheorie nahe. Die zweite weitreichende Verzerrung ist die auch heute noch populäre Vorstellung, dass der Mechanismus der Evolution zu einer Höherentwicklung der Lebewesen führe. Dahinter steht die bis ins beginnende 19. Jahrhundert vorherrschende Idee von der Stufenleiter des Lebens, an deren Spitze der Mensch als „Krone der Schöpfung“ stehe. Dadurch lässt sich einerseits ein ungehemmtes anthropozentrisches Denken begründen, das jedes Handeln rechtfertigt, mit dem sich der Mensch die Erde auf Kosten anderer Spezies untertan macht. Darüber hinaus wird die Evolution dadurch vor allem in ihrer Anwendung in den Sozialwissenschaften als notwendiger Reinigungsprozess verstanden, der die Ausmerzung „minderwertiger“ Lebewesen zum höheren Wohl des Ganzen rechtfertigt.“

Höhere Lebewesen entstehen durch Kooperation (Emergenz) einfacher Zellen miteinander, weil sie sich optimal  in spezielle Umwelten anpassen und ihre Besonderheit nutzen können. Sie sind aber nicht flexibler in dem Sinne, dass sie in beliebigen Umwelten  überleben könnten, das Gegenteil ist der Fall: sie sind Spezialisten für ganz bestimmte äußere Bedingungen. Sind diese nicht mehr gegeben, sterben sie aus und machen anderen Spezialisten Platz. Nur der Mensch kann sich wegen seiner Fähigkeit zur Abstraktion und  symbolischer Interaktion die Umwelt gezielt an seine Bedürfnisse anpassen.

Das unten verlinkte Musikstück „Evolution“ entstand spielerisch – noch ganz ohne Plan, was daraus werden könnte – aus einem mich fesselnden Rhythmusmuster. Durch Probieren entstand schließlich eine Grundstruktur, die Basis der ersten Strophe. Nun erst formte sich in mir eine Vorstellung, wie ein in sich geschlossenes Stück aufgebaut werden könnte, noch immer ohne konkrete Absichten, einfach nur der Überzeugung folgend: der beharrliche, ostinate Rhythmus muss das Ganze zusammenhalten, er muss ihm einen Sinn geben! Und erst als das Ganze so ziemlich fertig war  kam mir in den Sinn, dass dieser ostinate Rhythmus eigentlich das Beharrungsvermögen des Lebens wider alle Katastrophen symbolisiert. Der Schluss des Stückes ist freilich fatalistisch, da Evolution keinen Zweck verfolgt – mein Gefühl sagte mir, eine Apotheose auf die Evolution kann es nicht geben, besten falls auf den Menschen, der dem Sinnlosen einen Sinn zu geben vermag. Wenn diese Sinngebung Weisheit ist, dann sollte der Mensch als weise bezeichnet werden.

*) Anmerkung

Laue, Christian:
„Evolution, Kultur und Kriminalität. Über den Beitrag der Evolutionstheorie zur Kriminologie“,
ISBN 978-3-642-12688,
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Zitat aus Kapitel 6 über Altruismus:

Die Erklärung altruistischen und kooperativen Verhaltens von Lebewesen ist eines der klassischen Probleme der Evolutionstheorie. Survival of the fittest nach den Regeln der natürlichen Selektion scheint keinen Platz zu bieten für selbstloses Verhalten. Auf den ersten Blick scheint die biologische Welt allein von Konkurrenz und Egoismus dominiert. Dennoch ist altruistisches Verhalten in der Natur und in menschlichen Gesellschaften ständig und überall zu beobachten.
Bei der Darstellung der Entstehungsbedingungen kooperativen Verhaltens haben wir uns immer weiter von der Biologie entfernt und den menschlichen Gesellschaften und damit den Verhaltens- und Sozialwissenschaften genähert. Es handelte sich dabei um fließende Übergänge von ursprünglich rein biologischen Fragestellungen, deren Erweiterung auf menschliches Verhalten auch Sozialwissenschaftler zu interessieren begann.
Ausgangspunkt war der Mechanismus der natürlichen Selektion, der für alle Organismen gilt. Hamiltons Verwandtenselektion und Trivers’ reziproker Altruismus können nur einen geringen Teil menschlichen Sozialverhaltens erfassen. Bei der Frage, wie sich Altruismus in größeren und komplexen Sozialverbänden bilden konnte, die überwiegend aus kurzfristigen Einmalkontakten bestehen, bietet die evolutionäre Spieltheorie Anknüpfungspunkte. Deren Methodik ermöglicht es, neben Verwandtenselektion und reziprokem Altruismus weitere Bedingungen einzuführen, unter denen sich spezifisch menschliche Kooperation gebildet haben könnte. Menschliches Sozialverhalten ist sehr viel komplexer als das anderer Organismen, weil die Sozialkontakte vielgestaltiger sind. Die evolutionäre Spieltheorie entwirft Konstellationen, in denen Kooperation zwar auf Dauer mehr Gewinn für die Gemeinschaft erbringt, der Einzelne aber immer versucht ist, seinen individuellen Ertrag durch Betrug oder Trittbrettfahren zu steigern. So können soziale und unsoziale Strategien miteinander verglichen werden. Eine streng reziproke Verhaltensweise – Tit for Tat – erweist sich in allen durchgeführten Experimenten als die Strategie, die sich am besten durchsetzen und reproduzieren kann.

Hierzu sind bereits kognitive Fähigkeiten notwendig, die außer beim Menschen wahrscheinlich bei keinem Organismus vorausgesetzt werden können. Schritt für Schritt wurden die Erklärungsansätze komplexer und haben das Terrain tierischen Verhaltens nach und nach verlassen. Eine durch evolutionäre Erkenntnisse beeinflusste Verhaltenswissenschaft wie die experimentelle Wirtschaftsforschung kann Aufschluss darüber geben, welche typisch menschlichen Verhaltensweisen in ihrer Komplexität von der Evolution gefördert werden können und welche nicht. Dabei bedarf es vor allem beim Nachvollziehen des evolutionären Prozesses der Reproduktion verschiedener Strategien des gesamten Arsenals, das die Evolutionstheorie zur Verfügung stellt. Das angewendete evolutionäre Szenario bedient sich der natürlichen Selektion, aber auch der Gruppenselektion und der Gendrift, um einen plausiblen Entwicklungsgang darstellen zu können.


 


 

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