J. Brahms: Händelvariationen op. 24

Die Reihenfolge und Beschreibung der einzelnen Variationen und Zeitpunkt [min:sec] ihres Beginns (auf der YouTube-Seite kann man jede dieser Variationen direkt anwählen):

00:10 Aria
01:01 Var. 1: 4/4, Più vivo – staccato, synkopierte Sextakkorde.
01:49 Var. 2: 4/4, animato -Triolen gegen Achtel, legato, „Brahms-Ton“.
02:35 Var. 3: 4/4, dolce, scherzando – Sextakkorde, ähnlich Var. 1, leise
03:17 Var. 4: 4/4, risoluto – kraftvolle Oktavenakkorde mit Sforzato-Verlegung der Sekunde (b-c) auf schwache Taktteile
04:08 Var. 5: 4/4, b-Moll, espressivo, sostenuto – figurierte Sechzehntel im Bass, weich gleitende Oberstimme.
05:10 Var. 6: 4/4, b-Moll, sempre misterioso – Oktavenkanon, leichte Abwandlung der Oberstimme von Var. 5, Hinzunahme vom 3. Viertel des Themas
06:12 Var. 7: 4/4, con vivacità, deciso – enge Dreistimmigkeit im Staccato.
06:53 Var. 8: 4/4, Staccato auf dem Orgelpunkt der Tonika und der Subdominante.
07:32 Var. 9: 4/4, poco sostenuto, legato – chromatische Oktaven
08:38 Var. 10: 4/4, Allegro, energico – straffe Doppelgrifftriolen.
09:12 Var. 11: 4/4, Moderato, dolce espressivo – die niedersinkende Klarinettenmelodie und die Legatobegleitung fließender Sechzehntel erinnern an das Andante der Klaviersonate Nr. 3 (Brahms)
10:03 Var. 12: 4/4, L ‚istesso tempo, soave – sanftes Figurenspiel der Oberstimme begleitet das vereinfachte Thema im Bass.
10:54 Var. 13: 4/4, b-Moll, Largamente, ma non troppo – düsterer Marsch, molto sostenuto, espressivo.
12:28 Var. 14: 4/4, sciolto – unbeschwerte Spielfreude wie in den mittleren Diabelli-Variationen, Triller und Sexten rechts, Oktaven links. In Var. 14-16 steht wieder das 3. Viertel des Themas im Mittelpunkt.
13:06 Var. 15: 4/4, Spiel mit der Sekunde des Themas
13:47 Var. 16: 4/4, rascher Kanon mit gegenläufigen Quinten des Themas.
14:18 Var. 17: 4/4, più mosso – Gegensätzlichkeiten: Gegenbewegung von linker und rechter Hand, Oberstimme in Staccatoachteln und Sprüngen, Unterstimme in gebundenen Vierteln und engstufig.
14:42 Var. 18: 4/4, grazioso – in beiden Händen abwechselnd und synkopiert erscheint das Thema
15:26 Var. 19: 12/8, leggiero e vivace (ma non troppo) – die Praller der Mittelstimme bringen etwas Altertümliches in den Siciliano. Die Stimmung erinnert an eine Barkarole.
16:40 Var. 20: 4/4, Andante – gegenläufige Chromatik in Sextakkorden rechts und schweren Bassoktaven links, legatissimo
17:58 Variation 21: 4/4, g-Moll, Vivace – Doppelrhythmus mit Triolen gegen Sechzehntel, dolce.
18:37 Var. 22: 4/4, Alla Musette – Orgelpunkt auf den Achteln der Unter- und Mittelstimme (B/F)
19:26 Var. 23: 12/8, Vivace – mit ihrem Giguencharakter und den großen Terzen und verminderten Sexten dienen Var. 23 und 24 der Steigerung (Musik) zur Vorbereitung der Fuge. Mit leisen Achteln im Staccato bleibt Var. 23 noch verhalten.
19:57 Var. 24: 12/8, Sechzehntel statt Achtel, stürmische Läufe von piano zu forte in jeder Achtelgruppe.
20:33 Var. 25: 4/4, Vivace – akkordische Straffung des thematischen Gedankens.
21:13 Fuga

Walter Niemann schreibt in seiner Brahmsbiografie über die Händelvariationen:

Die dritte Gruppe der großen Händelvariationen mit Schlußfuge in B-dur op. 24 bildet die strahlende Krone aller Brahmsschen Variationenwerke. Das Thema stammt aus Händels Leçons (Schlußthema der kleinen B-dur-Suite). Der alte Meister hat darüber nur fünf bescheidene Variationen geschrieben; der junge schreibt fünfundzwanzig und, ganz in Händels Art und Geist, eine krönende große Fuge. Aber sein Werk hat auch im übrigen Händelschen Geist: Kraft, Feuer, Glanz, Frische und mächtigen Zug und Schwung. Es ist ein gesprochenes Konzertstück von großer und nie versagender äußerer Wirkung. Wie in jedem echten Variationenwerk – wird das, alles zierlich verschnörkelnde Arabeskenwesen seiner Zeit hinter die Kraft und Naivität des großen Meisters idyllischer Pastorales versteckende kernig-frohgelaunte Charakterthema von allen Seiten in Charaktervariationen beleuchtet. Seelisch und klanglich. Das klanglich Neue und Eigene liegt am klarsten in „orchestralen Klavierklängen“ auf der Hand. Es ist wahrhaftig nicht schwer, aus der anmutig bewegten und gebundenen zweiten (Triolen-)Variation Holzbläser, aus der siebenten ein schmetterndes Hornquartett, aus den Fanfaren der ostinaten Grundstimme in der achten Trompeten, aus der sinnig schwärmenden elften ein weiches Klarinettensolo, aus der zwölften ein Flötensolo, aus der dreizehnten die Streichinstrumente in tiefer Lage mit wuchtigen Doppelgriff-Pizzikatis der Bässe, aus dem naiven Siziliano der neunzehnten den Chor der Holzbläser, aus der tiefelegischen und chromatischen zwanzigsten das volle Streichorchester, die zarten, in der Mittelstimme durchklingenden Glöckchen in der gleich jenem Siziliano naiv-pastoral gefärbten zweiundzwanzigsten oder den ungarischen Ton des pathetischen Lassan in der dreizehnten (b-moll) herauszuhören.[1] Händelschen Ton schlägt nur die kräftig-heiter markierte erste Variation an; von der zweiten ab redet ausschließlich Brahms. Im Aufbau der Variationen wird man besonders die unaufdringliche, aber sehr feine und wohlberechnete innere und äußere Kontrastierung nach Tempo, Tonart und technischer Grundformel füglich bewundern. Die wenigen moll-Variationen (Nr. 5, 6, 13 [b-moll], 21 [g-moll]) sind überaus geschickt und gleichmäßig in das Ganze verteilt. Technisch-pianistisch repräsentieren diese Variationen den Typus des jüngeren Brahms. Die Gelehrsamkeit ist in eine einzige — die kanonische Nr. 6 in b-moll — zusammengedrängt. Von der dreiundzwanzigsten ab beginnt in schillerndem Moll-Dur und auf der Dominant der rhythmisch und dynamisch immer atemversetzender und stürmischer gesteigerte gewaltige Anlauf zur großen Schlußfuge, deren Führer (Dux) die ersten vier Noten des Händelschen Themas b c d es durch Sechs-zehntel-Zwischennoten „ausziert“. Die eminente kontrapunktische Kunst, die auch das schwerste Geschütz — Umkehrung, Vergrößerung des Themas und Verbindung von beidem — ins Gefecht führt, die selbstverständliche Natürlichkeit und logische Folgerichtigkeit ihrer Entwicklung ist Bachisch, ihr Charakter und ihr Satz Brahmsisch. Wie in den fünfundzwanzig Variationen die Kunst der inneren und äußeren Kontrastierung, so bleibt bei dieser imposanten Meisterfuge vielleicht am meisten die Kunst zu bewundern, mit der Brahms es versteht, den Hörer bei ganz langsamer innerer Steigerung bis zur letzten Note streng beim Thema zu halten, das sich in seiner lapidaren Kürze und plastischen Bildkraft dem Gedächtnis sofort einprägt, und den scheinbar auf der Dominant F-dur sich festsetzenden Schluß bis in den drittletzten Takt mit um so überraschenderer Wirkung hinauszuschieben.
Brahms’ Händelvariationen haben lange unter dem unfruchtbaren Vergleich mit Beethovens Klaviervariationen mit Schlußfuge über das Finalthema der Eroicasymphonie oder mit dem gar nicht erstrebten Charakter Händels zu leiden gehabt und, so unglaublich uns das heute scheint, den Weg ihres Ruhmes und Erfolges nur sehr langsam gemacht. Heute bedeuten sie uns wohl unbestritten das Brahmssche Variationenwerk für Klavier schlechthin.

[1] Folglich ist dieses Variationenwerk auch (von Edmund Rubbra) orchestriert worden. Mein Video mit den von mir auf dem PC orchestrierten Händelvariationen:

 

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