Weil aber die Vergangenheit nicht im Bereich des menschlichen Erlebens liegt, und weil wir deshalb mit unseren historiographischen Konstruktionen immer nur in der jeweiligen Gegenwart umgehen und Erfahrungen machen können, gibt es keine Möglichkeit, z.B. die Deskriptivität historiographischer Aussagen festzustellen oder zu überprüfen. Und weil sich historische Ereignisse und Prozesse weder wiederholen, noch sich reproduzieren lassen, haben wir auch keine Gelegenheit, entsprechende konzeptuelle Systeme (z.B. Theorien) in einem erfahrungswissenschaftlichen Rahmen zu erfinden, zu testen und weiterzuentwickeln. Die erfahrungswissenschaftlichen Möglichkeiten der Historiographie beschränken sich darauf, anhand der als Spuren oder Zeugnisse der Vergangenheit identifizierten Objekte und unter Verwendung als einschlägig erachteter theoretischer Konzepte und Modelle Geschichten zu erfinden, um sie auf ihre Verträglichkeit mit den Quellen und auf ihre Kompatibilität mit anderen Geschichten hin zu prüfen. Innerhalb des so bestimmten Spielraumes kann sich die Gültigkeit der jeweiligen Geschichtsschreibung also nicht an so etwas wie der Übereinstimmung mit den historischen Tatsachen bemessen, sondern nur daran, ob die jeweiligen Geschichten im Rahmen konsensfähiger Modellvorstellungen, auf der Basis geltender Annahmen über die Geschichte und Geschichtsschreibung sowie hinsichtlich der geltenden weltanschaulichen, ideologischen, ethischen, politischen usw. Konzepte plausibel, überzeugend und relevant sind.
Gebhard Rusch: THEORIE DER GESCHICHIE, HISTORIOGRAPHIE UND DIACHRONOLOGIE
LUMIS Schriften 11 1986
aus dem Institut für Empirische Literatur- und Medienforschung der
Universität – Gesamthochschule Siegen Weiterlesen