Was ist Wirklichkeit? – Zitate
Dies ist eine Auswahl dessen, was sich unsere großkopferten Genies und solche, die sich dafür halten, als „Wirklichkeit“ willkürlich und teilweise sogar zweckmäßig konstruierten und soll die willkürliche Zweckbezogenheit solcher unterschiedlichen Konstruktionen, von der ich in meinem Blogbeitrag „Was ist Wirklichkeit?“ redete, untermauern.
Wirklich ist also alles, was uns oder andere Dinge, zum Beispiel Radarstrahlen, zurückstoßen oder was Widerstand leisten kann ; und was auf uns oder auf andere wirkliche Dinge einwirken kann. Ich glaube, das ist klar genug, und es schließt die Erde ein, und Sonne, Mond und Sterne: Der Kosmos ist wirklich.
Karl R. Popper
Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit:
Die Suche nach einer besseren Welt
Und – für mich selbst verständlich – schließt Wirklichkeit auch all das Immaterielle (Transzendente) ein, an das ich glaube, was ich träume, was ich zu tun beabsichtige, was ich liebe; denn all das kann ebenfalls, wie übrigens auch Ideen und Verhalten anderer, auf mein weiteres Verhalten einwirken. Auch dieser Teil der Welt ist wirklich, insofern er auf die Wirklichkeit der Menschen einwirken und sie verändern kann.
In Wirklichkeit hieß sie aber Ermelinda Tuzzi und in Wahrheit sogar nur Hermine.
Robert Musil
„Der Mann ohne Eigenschaften“
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Was ist Wirklichkeit? Woher wissen wir, daß das, was wir träumen, unwirklich und das, was wir wachend erleben, wirklich ist? Ein chinesischer Dichter hat das treffend ausgedrückt: »Ich habe letzte Nacht geträumt, ich sei ein Schmetterling, und jetzt weiß ich nicht, ob ich ein Mensch bin, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ob ich vielleicht ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, er sei ein Mensch.«
Erich Fromm
„Märchen, Mythen, Träume –
Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache“
Einige Künstler haben Spiegel auf eine faszinierend andere Art und Weise eingesetzt – sie haben sie mitten in ihren Gemälden platziert, um den Betrachtern Einsicht in die Gedankenwelt der Figur und auch des Malers zu gewähren. Zu den ersten Künstlern, die diesen Kunstgriff angewendet haben, gehörten im 17. Jahrhundert Jan Vermeer und Diego Velázquez. In Vermeers Gemälde Die Musikstunde (Herr und Dame am Virginal) von 1662 zeigt uns der Künstler die Rückenansicht einer jungen Frau, die auf einem Virginal (einer Art kleinem Cembalo) spielt; ein junger Mann steht rechts von ihr und hört aufmerksam zu. Die Haltung ihres Kopfes lässt vermuten, dass ihre Augen auf ihre Hände gerichtet sind, die sich über die Tasten bewegen. Vermeer hat über das Instrument jedoch einen Spiegel gemalt, mit dessen Hilfe er seinen Betrachtern noch eine ganz andere Wirklichkeit präsentieren kann. Im Spiegel ist der Kopf der Frau nicht gerade nach unten gebeugt, sondern nach rechts gedreht, sodass sie in Richtung des Mannes schaut. Wie erwähnt, reagiert das menschliche Gehirn ausgesprochen empfindlich auf die Blickrichtung einer Person, indem es anhand der Augen auf ihre Interessen und ihren Gemütszustand schließt. Die Augen der Frau im Spiegel sagen uns, dass der wahre Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit und vielleicht auch das Objekt ihrer heimlichen Begierde der Mann ist, der einige Schritte von ihr entfernt steht und sie betrachtet. Das von Vermeer geschaffene Spiegel-Bild betont die Spannung zwischen der äußeren Realität und den wahren V orgängen in der Gedankenwelt der Frau. Manche Maler gewährten den Betrachtern nicht nur Einblick in die Seele ihrer Figuren, sondern gelegentlich auch in ihre eigene. In Velázquez’ Gemälde Las Meninas (Die Hoffräulein) von 1656 erscheint der Künstler
erstmals als zentrale Figur in seinem eigenen Bild – nicht als Objekt eines Selbstporträts, sondern als wichtigster Bezugspunkt eines großen Gruppenporträts, an dem er gerade arbeitet. Velázquez nimmt in dem Bild eine dominierende Rolle ein und erklärt damit, dass er derjenige ist, dem das Gemälde seine Existenz verdankt. Er verwendet ebenfalls einen Spiegel – in diesem Fall, um Personen darzustellen, die den Betrachtern sonst verborgen bleiben würden, und um diesen die Kunstfertigkeit vor Augen zu führen, die eine bildliche Darstellung verlangt. Las Meninas zeigt uns einen Raum im Palast des spanischen Königs Philipp IV., wo Velázquez ein gigantisches Porträt der königlichen Familie malt. In der vorderen Mitte des Gemäldes steht die fünfjährige Infantin Margarita, die sich schließlich zu ihren Eltern gesellen wird, um mit ihnen Modell zu sitzen, umgeben von ihrem Hofstaat – zwei Hoffräulein, einer Ehrendame, einem Leibwächter, zwei Zwergen und einem Hund. Im Hintergrund steht der Hofmarschall an einer offenen Tür; er dreht sich herum, als wollte er König und Königin seine Ehrerbietung erweisen, bevor er den Raum verlässt. Etwas weiter zum linken Bildrand hin arbeitet Velázquez an der riesigen Leinwand; er präsentiert stolz Pinsel und Palette – königliches Zepter und Reichsapfel des Malers. Er schaut aber nicht auf die Leinwand, sondern auf seine Modelle, König Philipp und Königin Mariana, die wir nur als Reflexionen in einem Spiegel sehen können, der hinter dem Maler hängt. Da wir uns dort befinden, wo das Königspaar stehen würde, blickt V elázquez auch uns direkt an. Dieses außerordentliche Gemälde ist ein Musterbeispiel für das V erfahren, das Alois Riegl an den Gruppenporträts so sehr bewunderte – die Einbeziehung des Betrachters in das Kunstwerk. Velázquez benutzt den Spiegel, um das Bild mehrdeutig zu machen. Sehen wir das Spiegelbild der Leinwand, die der Künstler gerade bemalt? Oder sehen wir das Spiegelbild des Königspaares selbst, das außerhalb des abgebildeten Raumes steht? Velázquez konfrontiert die Betrachter zum ersten Mal mit der gleichermaßen künstlerischen und philosophischen Frage: Welche Rolle spielt der Betrachter? Schlüpft er in die Rolle von König und Königin, wenn er vor dem Bild steht? Was ist Wirklichkeit und was ist Illusion? Abgesehen davon, was der Spiegel tatsächlich reflektiert, ist er noch eine Ebene weiter von der Realität entfernt, weil er die Abbildung einer Reflexion ist – er ist das Bild vom Bild eines Bildes. In Velázquez’ Gemälde deuten sich bereits Fragen an, die später die Vorstellungen der Moderne beherrschen sollten; sie wurden von besonderer Bedeutung für die österreichischen Expressionisten und ihre Auseinandersetzung mit der Vermittlung physischer und psychischer Realität. Mithilfe der vom Spiegel repräsentierten Mehrdeutigkeit und der eigenen dominierenden Präsenz im Bild führt Velázquez den Betrachtern den Akt der Repräsentation überdeutlich vor Augen. Er macht ihnen den Prozess bewusst, mit dessen Hilfe die Kunst eine Illusion der Wirklichkeit erschafft – die Illusion, dass das Gemälde die Wirklichkeit ist und nicht nur ihre künstlerische Darstellung.
Eric Kandel
DAS ZEITALTER DER ERKENNTNIS
Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute
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Erinnerungen und Hoffnungen gewannen wieder Oberhand in ihm; sie mischten sich zu einem wirbelnden Tanz. Seit seinem seltsamen Erwachen hatte er keine Zeit gefunden, sich zu wundern. Und nun war alles schon erprobt, war selbstverständlich. Fremdes war da – und auch Vertrautes, doch das Fremde trug einen Schimmer von Vertrautheit, und das Vertraute war ein wenig fremd. Alles war neuartig, aber keineswegs abstoßend. Er forschte in sich, ob er dem nachtrauerte, was für immer verloren war – der Körperlichkeit, der heimatlichen Erde, seiner Zeit. Der Körper ist nur ein Gehäuse, dachte er, die Erde nur eine Bühne. Aber sind sie die Wirklichkeit? fragte er. Was ist Wirklichkeit? Das Verlorene oder das neu Gewonnene? Wieder erschienen Bilder aus dem Kaleidoskop seines Gedächtnisses. Sie beherrschten ihn so sehr, daß er wieder erlebte, wieder litt… Er stand vor Entscheidungen, quälte sich in unlösbaren Konflikten… aber es war doch Traum! begehrte er auf, es ist seit Jahrmillionen vorbei! Wieder fragte er: Wo beginnt der Traum, wo die Wirklichkeit? Was heißt Zeit? Was heißt vorbei? Er horchte in das Weben hinein, das um ihn und in ihm war. Da waren nur Fragen, und keine Antworten. Da war noch etwas neben ihm, etwas mit ihm Verbundenes und doch Eigenes, das ihn rief. Er öffnete sich diesem leisen Drängen und wurde endlich ruhig. Er hatte keine Wünsche mehr. Der Raum ringsum war leer und kalt, aber ihn konnten weder die Abgründe des Raumes noch der Zeit schrecken. Schwerelos ließ er sich in der Unendlichkeit treiben. Einst werde ich wirklich erwachen, dachte er, einst werde ich wissen.
Herbert W. Franke
„Das Gedankennetz“
Science-fiction-Roman
Wir sollten nie aufhören, zu neuen Zielen aufzubrechen. Doch am Ende unserer Erkundung sind wir plötzlich wieder da, wo die Reise begann, und wir meinen, zum erstenmal hier zu sein.
T. S. Eliot,
»Little Gidding«, Vier Quartette.
Verborgene Realitäten
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Teile der Wirklichkeit, in der wir leben, sind eine materielle Wirklichkeit. Wir leben auf der Oberfläche der Erde, die die Menschen erst vor kurzem – während der achtzig Jahre meines Lebens – entdeckt haben. Über das Innere wissen wir ein wenig, mit Betonung auf »wenig«. Abgesehen von der Erde gibt es Sonne, Mond und Sterne. Sonne, Mond und Sterne sind materielle Körper. Die Erde, zusammen mit Sonne, Mond und Sternen, gibt uns die erste Idee eines Universums, eines Kosmos. Seine Erforschung ist die Aufgabe der Kosmologie. Alle Wissenschaft dient der Kosmologie. Auf Erden haben wir zwei Arten von Körpern gefunden: lebende und nicht-lebende. Beide gehören zur Körperwelt, zur Welt der materiellen Dinge. Diese Welt nenne ich »Welt 1«.
Das, was ich »Welt 2« nenne, ist die Welt unserer Erlebnisse, vor allem der Erlebnisse der Menschen. Schon die bloße Unterscheidung zwischen den Welten 1 und 2, also der Körperwelt und der Welt der Erlebnisse, hat viel Widerspruch erregt, aber ich will damit ja nur sagen, daß diese Welt 1 und diese Welt 2 wenigstens prima facie verschieden sind. Die Untersuchung ihrer Beziehungen, einschließlich ihrer möglichen Identität, ist eine der Aufgaben, die wir, natürlich mit Hypothesen, zu bewältigen suchen. Mit ihrer verbalen Unterscheidung wird nichts vorweggenommen. Diese Unterscheidung soll im wesentlichen nur ermöglichen, die Probleme klar zu formulieren.
Tiere haben vermutlich auch Erlebnisse. Das wird manchmal bezweifelt; aber ich habe nicht Zeit, solche Zweifel zu diskutieren. Es ist durchaus möglich, daß alle Lebewesen Erlebnisse haben, auch die Amöben. Denn wie wir von unseren Träumen wissen oder von Patienten in hohem Fieber und ähnlichen Zuständen, gibt es subjektive Erlebnisse von sehr verschiedenen Bewußtseinsgraden. In Zuständen von tiefer Bewußtlosigkeit oder auch von traumlosem Schlaf verschwindet das Bewußtsein, und mit ihm verschwinden unsere Erlebnisse. Aber wir können annehmen, daß es auch unbewußte Zustände gibt, die zur Welt 2 gerechnet werden können. Es kann vielleicht auch Übergänge geben zwischen Welt 2 und Welt 1: Wir sollten solche Möglichkeiten nicht dogmatisch ausschließen.
Wir haben also die Welt 1, die physische Welt, die wir in belebte und unbelebte Körper unterscheiden und die auch insbesondere Zustände und Vorgänge enthält, wie Spannungen, Bewegungen, Kräfte, Kraftfelder. Und wir haben die Welt 2, die Welt aller bewußten Erlebnisse und, vermutlich, auch von unbewußten Erlebnissen.
Was ich Welt 3 nenne, ist die Welt der objektiven Produkte des menschlichen Geistes; also die Welt der Produkte des menschlichen Teils von Welt 2. Die Welt 3, die Welt der Produkte des menschlichen Geistes, enthält solche Dinge wie Bücher, Symphonien, Werke der Bildhauerei, Schuhe, Flugzeuge, Computer; und auch unzweifelhaft materielle Dinge, die gleichzeitig zur Welt 1 gehören, wie zum Beispiel Kochtöpfe und Knüppel. Es ist zum Verständnis dieser Terminologie wichtig, daß alle geplanten oder gewollten Produkte der menschlichen Geistestätigkeit als Welt 3 klassifiziert werden.
Unsere Wirklichkeit besteht also dieser Terminologie nach aus drei untereinander verbundenen und irgendwie aufeinander einwirkenden Welten, die sich auch teilweise überschneiden. (Das Wort »Welt« bedeutet hier offenbar nicht Universum oder Kosmos, sondern Teilstücke daraus.) Diese drei Welten sind: die physische Welt 1 der Körper und der physischen Zustände, Vorgänge und Kräfte; die psychische Welt 2 der Erlebnisse und der unbewußten psychischen Vorgänge; und die Welt 3 der geistigen Produkte.
Es gab und es gibt Philosophen, die nur die Welt 1 für wirklich halten, die sogenannten Materialisten oder Physikalisten; und andere, die nur die Welt 2 für wirklich halten, die sogenannten Immaterialisten. Sogar Physiker gab und gibt es unter den Immaterialisten. Der berühmteste war Ernst Mach, der (ähnlich wie vor ihm schon Bischof Berkeley) nur unsere Sinnesempfindungen für wirklich hielt. Er war ein bedeutender Physiker, aber er löste die Schwierigkeiten der Theorie der Materie durch die Annahme, daß es keine Materie gibt, also insbesondere keine Atome und Moleküle.
Dann gab es sogenannte Dualisten, die annahmen, daß sowohl die physische Welt 1 als auch die psychische Welt 2 wirklich seien. Ich gehe noch weiter: Ich nehme nicht nur an, daß die physische Welt 1 und die psychische Welt 2 wirklich sind, und daher auch, selbstverständlich, die physischen Produkte des menschlichen Geistes, wie zum Beispiel Automobile oder Zahnbürsten und Statuen, sondern auch geistige Produkte, die weder zur Welt 1 noch zur Welt 2 gehören. Mit anderen Worten, ich nehme an, daß es einen immateriellen Teil der Welt 3 gibt, der wirklich ist und der sehr wichtig ist; zum Beispiel Probleme.
Die Reihenfolge der Welten 1, 2 und 3 entspricht ihrem Alter. Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Vermutungswissens ist der unbelebte Teil der Welt 1 bei weitem der älteste; dann kommt der belebte Teil der Welt 1 und gleichzeitig oder etwas später die Welt 2, die Welt der Erlebnisse; und mit den Menschen kommt dann die Welt 3, die Welt der geistigen Produkte; also die Welt, die die Anthropologen »Kultur« nennen.
Karl R. Popper
Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit :
Die Suche nach einer besseren Welt
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Das ist der ersehnte Moment, der das Selbst wenigstens für heute mit der Welt noch versöhnen kann: Welch eine Wohltat, wenn aus dem Duschkopf das Wasser sprüht und über den Körper herabzurinnen beginnt. Es strömt und gurgelt und blubbert wie einst vielleicht im Mutterleib, und ich fühle mich ganz umhüllt vom warmen, fließenden Nass. Was ist ein schönes Leben? Das Leben in dieser warmen Wasserwelt – würde es doch ewig währen! Ich helfe nach, zögere das drohende Ende hinaus: hier noch etwas waschen, dort noch etwas nachspülen, und noch ein warmer Guss von oben. Aber irgendwann ist es so weit, es lässt sich nicht verhindern: Ich bewege den Hebel zurück, das Wasser versiegt, einen Moment noch spüre ich den Tropfen und Tröpfchen nach, die über die Haut perlen. Dann löst sich der letzte Tropfen aus dem Duschkopf und rinnt eiskalt und quälend langsam den Rücken hinunter. Jetzt der schreckliche Augenblick: Ich öffne, ich kann nicht anders, den Vorhang wieder, und die ganze kalte Wirklichkeit des Tages dräut mit einem Mal herein, lässt mich erzittern und erbeben. Zwar kann ich frühzeitig gegensteuern und zum Abschluss noch kalt duschen: kalte Dusche als optimale Vorbereitung auf die Welt, wie sie ist. Aber die Konfrontation mit der Wirklichkeit bleibt dieselbe. Ich kann den Zusammenstoß mildern, indem ich mich anstelle einer von Plexiglas umschlossenen Duschkabine mit dem Duschvorhang begnüge – dann weht schon während des warmen Schauers ein kühler Hauch von Wirklichkeit herein, aber es ist auch nur das halbe Vergnügen: Wer alle Lust haben will, muss bereit sein, alle Schrecknisse der Wirklichkeit zu ertragen. Was ist Wirklichkeit? Das, womit ich fertig werden muss. Was ist ein schönes Leben? Das Leben, das angenehme Erfahrungen bereithält und die unangenehmen aushalten lässt. Auf die wirkliche Dusche folgt unvermeidlich die Wirklichkeitsdusche: Ontologie der Duschkabine. Vorhang auf zum Theater der Welt!
Wilhelm Schmid
Mit sich selbst befreundet sein – von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst
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Was ist Wirklichkeit? Was ist Wissen? Diese beiden Fragen stellen sich dem Mann auf der Straße in aller Regel gar nicht. Er „kümmert sich normalerweise nicht darum, was wirklich für ihn ist und was er weiß, es sei denn, er stieße auf einschlägige Schwierigkeiten. Er ist seiner »Wirklichkeit« und seines »Wissens« gewiss.“ (Berger u. Luckmann 1966, S. 2) Und wenn man der Frau auf der Straße entsprechende Fragen stellen würde, würde sie wahrscheinlich so antworten: „Es ist, wie es ist, und was ich weiß, das weiß ich – und beides versteht sich von selbst.“ Soziologen sind geborene (oder wenigstens: gelernte) Zweifler, und nichts, was nur im Entferntesten mit Gesellschaft zu tun hat, ist ihnen selbstverständlich. Wissen hat mit Gesellschaft zu tun und Wirklichkeit auch. Das eine ist ein Prinzip der symbolischen Ordnung einer jeden Gesellschaft; das andere Form der symbolischen Ordnung, die eine konkrete Gesellschaft für sich insgesamt und die Individuen in ihr jeweils für sich und zusammen mit anderen konstruieren. Damit ist schon die These angedeutet, die dem vorliegenden Buch zugrunde liegt: Wissen und Wirklichkeit sind Konstruktionen, durch die Ordnung in die komplexe Welt gebracht wird. An diesen Konstruktionen sind die Gesellschaft mit ihren institutionellen Regelungen und die Individuen zugleich beteiligt. Da eine Gesellschaft nur solange besteht, wie Individuen in ihr gemeinsam und zustimmend handeln, ja letztlich nur im Handeln ihrer Mitglieder besteht, kann die Konstruktion der Wirklichkeit nicht verstanden werden, wenn wir nicht die Interaktionen verstehen, in denen sie jeweils zustande kommt. Die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Wirklichkeit berührt eine der Grundfragen der Soziologie. Sie lautet: Wie wird Gesellschaft zusammengehalten? Auf diese unerschöpfliche Frage hat es berühmte Antworten gegeben. Ich nenne stellvertretend für viele andere klassische Erklärungen
• EMILE DURKHEIM mit seiner These vom kollektiven Bewusstsein,
• GEORGE HERBERT MEAD mit der These vom „universe of discourse“ oder
• TALCOTT PARSONS mit der These von der Dominanz des kulturellen Systems.
Neben diesen klassischen Antworten ist die von PETER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ins Gespräch gekommen. Sie sagen, dass eine Gesellschaft vor allem durch das gemeinsame Wissen zusammengehalten wird. Diese These zieht sich durch ihr Buch, das 1966 unter dem Titel „The Social Construction of Reality“ in den USA erschienen ist und inzwischen zu den Klassikern der soziologischen Literatur zählt. Die hier vorliegende Diskussion will aus diesem in Theorien und Themen weit ausgreifenden Werk vor allem die Frage behandeln, wie sich das gemeinsame Wissen hinter dem Rücken der Individuen aufbaut, wie es im eigentlichen Sinne des Wortes „wirklich“ wird und inwiefern es einen Rahmen bildet für unser subjektives Wissen. Die diesbezügliche These steckt zum Teil schon im Titel des Buches. Er enthält aber auch eine ernsthafte soziologische Warnung und eine genauso ernsthafte Aufforderung: Die Wirklichkeit ist eine gesellschaftliche Konstruktion! Der Titel warnt vor der falschen Annahme, es gäbe eine Wirklichkeit an und für sich und sei deshalb selbstverständlich; richtig ist, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse schon geregelt sind, bevor wir auf die Bühne des Lebens treten. Solche Regelungen werden als »Institutionen« bezeichnet. Doch wir dürfen nie vergessen, und genau dazu regt der Titel an, dass sich diese Regelungen aus dem Handeln von Menschen, auch wenn sie sich dessen vielleicht gar nicht bewusst waren, ergeben haben und als praktische Lösungen beibehalten wurden. Dieses Wissen wach zu halten, ist ein Anliegen des Buches von Berger und Luckmann. Die Wirklichkeit ist nur scheinbar selbstverständlich, und deshalb ist sie auch allen soziologischen Fragens würdig. Doch das ist nicht so leicht, denn unser gesamtes Denken über den ganz normalen Alltag und vor allem unsere soziale Kommunikation mit den Anderen in unserer gemeinsamen Wirklichkeit erfolgt in einem Medium, das von keines Zweifels Blässe getrübt ist: in Form von Sprache. In ihr ist alles festgestellt, was hier und heute als vernünftiges Denken und Handeln in der geordneten Wirklichkeit gilt. Sie versorgt uns mit dem Wissen, das jedermann in dieser Gesellschaft besitzt oder besitzen sollte. Und hier liegt auch das Problem, dass wir nämlich in der unbedachten Verwendung der Sprache und des in ihr zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Wissens annehmen, dass die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, und dass alle anderen sie deshalb auch genau so sehen wie wir.
In dieser Hinsicht wirft das Kap. 2 skeptische Fragen auf und versucht erste Antworten. Eine Antwort wird auf die These hinauslaufen, dass die Dinge nicht von sich aus so sind, wie sie sind, sondern dass wir ihnen in den Interaktionen mit anderen Individuen Bedeutung beimessen und so gemeinsam eine symbolische Wirklichkeit schaffen. In den folgenden Kapiteln geht es um natürliche Einstellungen zu einer „selbstverständlichen“ Lebenswelt und um die Frage, wie Wissen in der Alltagswelt überhaupt entsteht und welches pragmatische Interesse wir an „der“ Wirklichkeit entwickeln. Dabei werden wir feststellen, dass die „Wirklichkeit“ schon vorab durch die Gesellschaft konstruiert ist. Sie stellt sich in Institutionen immer wieder neu fest. Beide Sätze bilden keinen Widerspruch, denn im Augenblick unseres Handelns sind Bedingungen des Handelns – auch durch gesellschaftliches Wissen! – schon festgestellt, institutionalisiert, aber durch unser Handeln setzt schon der Prozess ein, in dem wir die Institutionen bestätigen oder revidieren. Da das so ist, setzt die Gesellschaft – als selbstverständliche symbolische Ordnung bis dahin – alles daran, ihre Legitimation unter Beweis zu stellen. Wo Zweifel auftauchen, greift sie korrigierend oder auf andere, drastischere Weise in die symbolische Ordnung der Individuen ein. Schließlich steht auch die subjektive Wirklichkeit nicht fest, und es gibt eine ganze Reihe von bewussten oder stillen Revisionen, mit denen die Vergangenheit auf Vordermann gebracht und die Zukunft vorbereitet wird. Dieser letzte Fall ist weder ehrenrührig noch selten. Im Gegenteil, die Modeme hat zu einer Pluralisierung der symbolischen Wirklichkeit geführt, und das hat Folgen für die moderne Identität. Im 9. Kapitel lenke ich den Blick auf unsere Beziehung zu anderen, d. h. ich frage, wie unsere Wissen über uns und die anderen entsteht und wie es funktioniert. Dabei wird schnell deutlich werden, dass das Denken über uns und die Anderen eng mit dem zusammenhängt, was die Bezugsgruppe, der wir uns in irgendeiner Weise verbunden fühlen, denkt. Und etwas anderes sollte auch deutlich werden: das Denken über „uns“ ist dadurch gekennzeichnet, dass wir Grenzen gegenüber „Anderen“ ziehen.
Um diese Anderen geht es vor allem in Kapitel 11, wo die soziale Figur des Fremden, dies allerdings nur in einer ganz bestimmten soziologischen Einschränkung, angesprochen wird. Es geht in diesem Buch nicht um eine Soziologie des Fremden. Das wäre ein ganz anderes Thema und wäre angesichts der weit verzweigten soziologischen Diskussion in der Kürze auch gar nicht zu leisten. Es gilt vielmehr, den Fremden als paradigmatischen „Querbegriff‘ zu Begriffen der sozialen und vor allem der kulturellen Ordnung zu verstehen. Meine These wird sein, dass unsere kulturelle Ordnung bei weitem nicht so fest gefügt ist, wie wir das gerne annehmen, und dass uns das im Umgang mit dem Fremden bewusst werden kann. Ich formuliere deshalb etwas zögerlich, weil das mit dem „Bewusstwerden“ im Alltag so eine Sache ist. Im Normalfall machen wir uns nämlich keineswegs bewusst, wie wir denken, sondern – siehe oben – wir denken „wie üblich“. Und wenn unsere Ordnung der selbstverständlichen Gewissheiten gestört wird, reagieren wir in der Regel mit Abwehr. Dieser Versuch, die vertraute Sinnwelt durch Abwehr von Alternativen zusammenzuhalten, steht im Mittelpunkt der letzten Kapitel über den Zusammenhang von Wissen und Vorurteil. Dabei wird das Vorurteil als eine besondere Form der Abwehr von Zweifeln an der Selbstverständlichkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden. Der Fremde hier vor Ort, in unserem eigenen Land, ist ein Beispiel für etwas, das diese Zweifel auslösen kann. Zweifel können aber auch aus der Gesellschaft selbst entstehen, weil die kulturellen Orientierungen in eine Krise geraten oder die Individuen sich gegenüber den objektiven Bedingungen ihrer Gesellschaft unsicher fuhlen. In dieser Situation kommt es nicht selten zu einer Identifizierung von „Schuldigen“, die man mit unseren Problemen bepackt und symbolisch in die Wüste jagt oder sogar tatsächlich vernichtet. Vorurteile dienen auch dazu, eine vertraute Sinnwelt zusammenzuhalten!
In die Diskussion dieser These beziehe ich einen Beitrag von BENITA und THOMAS LUCKMANN aus einem Studienbrief über „Wissen und Vorurteil“ ein, den sie seinerzeit für die FernUniversität in Hagen verfasst haben. (Luckmann u. Luckmann 1983) Dieser Studienbrief, der in die Jahre gekommen war, war überhaupt der Auslöser, grundsätzlicher danach zu fragen, wie unser Wissen von der Wirklichkeit zustande kommt und wie es in der Interaktion mit anderen funktioniert. Bei meinen Überlegungen habe ich nicht nur den exemplarischen Fall einer Hexenverfolgung Ende des 17. Jahrhunderts (Kap. 14.2) aufgegriffen, sondern bin auch an vielen anderen Punkten der Argumentation von Benita und Thomas Luckmann gefolgt. Manche der damals geäußerten Gedanken, vor allem zum Thema „Wissen und Wirklichkeit“, haben sich ohnehin in meinem Kopf so festgesetzt – und gehören wohl auch zur opinio communis in der Soziologie, inzwischen vielleicht sogar im gehobenen Alltagsdiskurs -, dass Trennlinien gar nicht immer gezogen werden können. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass Thomas Luckmann meine expliziten Übernahmen aus dem damaligen Text ausdrücklich gebilligt und aus dem ihm vorgelegten Manuskript den Schluss gezogen hat, ich sei mit seinem Denken „nicht nur vertraut“, sondern wisse auch „mit ihm umzugehen“. – Jedenfalls will ich mein Scherflein dazu beitragen, dass dieses Denken sich in vielen Köpfen breitmacht. Es betrifft ein zentrales Thema im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft! Damit schlage ich noch einmal den Bogen zurück zu der eingangs geforderten Antwort auf die Paradoxie der »reflexiven Modeme«: Wenn wir uns auf die Analyse des Zusammenhangs von Wissen und gesellschaftlicher Wirklichkeit einlassen, dann haben wir wenigstens schon mal einen Schritt getan, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Denn: Wer einmal angefangen hat zu fragen, warum wir meinen, die Verhältnisse seien selbstverständlich, wird sie nie mehr für selbstverständlich nehmen können. Auch das Wissen über sich selbst nicht!
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In der Ouantenfeldtheorie beispielsweise reden die Theoretiker oft von abstrakten Gebilden, sogenannten virtuellen Teilchen. Diese flüchtigen Objekte entstehen aus dem Nichts und verschwinden beinahe sofort wieder. Ihr flüchtiges Dasein kann in gewöhnlicher Materie zwar eine schwache Spur hinterlassen, die virtuellen Teilchen selbst aber können niemals direkt beobachtet werden. Inwieweit können sie also als tatsächlich existierend angesehen werden? Sind die virtuellen Teilchen vielleicht eher eine zweckmäßige Hilfe für den Theoretiker – eine einfache Möglichkeit, Prozesse zu beschreiben, die aus dem vertrauten Begriffssystem herausfallen – als wirkliche Objekte? Oder sind sie vielleicht – wie die Epizyklen – Bestandteile eines Modells, das sich als falsch erweist und von einem Modell verdrängt wird, in dem sie keinen Platz haben? Was ist Wirklichkeit? Je weiter die Wissenschaft sich vom gewohnten Denken entfernt, desto schwerer fällt meist die Entscheidung, was ein Modell ist und was als getreue Beschreibung der wirklichen Welt gelten kann.
„Auf dem Weg zur Weltformel –
Superstrings, Chaos, Komplexität.
Über den neuesten Stand der Physik“
Was ist Wirklichkeit, was Reproduktion, wenn zum Faktum geworden ist, dass unsere Wirklichkeit eine ist, die in Bildern wahrgenommen wird? Wir machen uns Bilder von der Wirklichkeit, die dann unsere Wirklichkeit sind – aber nicht, weil wir Schein und Sein verwechseln, sondern weil wir nur noch als existierend anerkennen, was wir selbst produziert haben. Dieses erst ist unser Besitz.
Gerhard Schweppenhäuser
„Ästhetik –
Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe“
»Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt…« – »Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von anderen unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von anderen Gegenständen gelten könnte.« Und in der Einleitung zur transzendentalen Dialektik sagt Kant: »Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird.« Die Charakteristik der Wahrheit als »Übereinstimmung«, adaequatio, ist zwar sehr allgemein und leer. Sie wird aber doch irgendein Recht haben, wenn sie, unbeschadet der verschiedenartigsten Interpretationen der Erkenntnis, die doch dieses auszeichnende Prädikat trägt, sich durchhält. Wir fragen jetzt nach den Fundamenten dieser »Beziehung«. Was ist in dem Beziehungsganzen – adaequatio intellectus et rei – unausdrücklich mitgesetzt? Welchen ontologischen Charakter hat das Mitgesetzte selbst? Was meint überhaupt der Terminus »Übereinstimmung«? Übereinstimmung von etwas mit etwas hat den formalen Charakter der Beziehung von etwas zu etwas. Jede Übereinstimmung und somit auch »Wahrheit« ist eine Beziehung. Aber nicht jede Beziehung ist Übereinstimmung.
Martin Heidegger
„Sein und Zeit“
Wenn wir sagen, etwas ist wahr, meinen wir im Allgemeinen, dass es wirklich und nicht etwa erfunden ist. Die Begriffe »wahr« und »wirklich« werden oft als Synonyme gebraucht. Was aber ist »die Wirklichkeit«? Für Descartes bestand die Wirklichkeit aus Wahrheiten, die a priori existieren und unveränderlich sind: Wir entdecken Wahrheiten, aber wir schaffen sie nicht. Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Wirklichkeit etwas ist, das erst aus unseren gemeinsamen Erfahrungen entsteht, dann sind Wahrheiten keine objektiven, losgelösten Erscheinungen, sondern die Erklärung der Erfahrungen, die wir miteinander teilen. Oder anders: Durch den Prozess des Partizipierens erzeugen wir selbst Wirklichkeit. Alle unsere Wahrheiten sind nichts anderes als die Systematisierung unserer bestehenden Beziehungen und gemeinsamen Erfahrungen. Unser Sein ist also nicht von unseren Beziehungen trennbar.
Jeremy Rifkin
„Die empathische Zivilisation –
Wege zu einem globalen Bewusstsein“
Der Trend zu einem »postmechanistischen« Paradigma, das der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts angemessen wäre, vollzieht sich auf breiter Front: in der Kosmologie, der Chemie selbstorganisierender Systeme, der neuen Chaosforschung, der Quantenmechanik und der Teilchenphysik, der Informatik und (noch widerstrebend) an der Schnittstelle zwischen Biologie und Physik. In all diesen Bereichen sehen es die Wissenschaftler als fruchtbar oder unumgänglich an, den Teil des Universums, mit dem sie sich befassen, völlig neu anzuschauen, in Kategorien, die mit den alten Vorstellungen vom Materialismus und der kosmischen Maschine kaum noch etwas zu tun haben. Dieser gewaltige Paradigmenwechsel bringt auch eine ganz neue Sicht auf den Menschen und seine Rolle im großen Spiel der Natur mit sich. Der Physiker Joseph Ford hat das materialistische, mechanistische Paradigma als »Gründungsmythos« der klassischen Wissenschaft bezeichnet. Müssen wir deshalb annehmen, daß der gewaltige Fortschritt der Wissenschaft in den letzten drei Jahrhunderten auf einem totalen Mißverständnis über das Wesen der Natur beruht? Nein, das hieße, die Rolle wissenschaftlicher Paradigmen falsch zu verstehen. Ein Paradigma ist weder richtig noch falsch, es spiegelt lediglich eine Perspektive, einen Wirklichkeitsaspekt wider, der sich entsprechend den Umständen als mehr oder weniger fruchtbar erweisen kann – so, wie ein Mythos, auch wenn er nicht die Wahrheit ist, allegorische Einsichten enthalten kann, die sich entsprechend den Umständen als mehr oder weniger brauchbar herausstellen. Das mechanistische Paradigma erwies sich als so erfolgreich, daß man fast überall bereit war, es mit der Wirklichkeit gleichzusetzen, es nicht als eine Seite der Wahrheit anzusehen, sondern als Wahrheit schlechthin. Inzwischen erkennen immer mehr Wissenschaftler die Grenzen der materialistischen Naturauffassung und meinen, daß die Welt mehr ist als eine gigantische Maschine.
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Gerade die Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit müssen sich von Grund auf ändern. Obwohl wir im sogenannten wissenschaftlichen Zeitalter leben, ist die Wissenschaft nicht das einzige Denksystem, das uns beherrscht. Die unterschiedlichsten Religionen und Philosophien geben vor, ein reicheres und umfassenderes Weltbild zu bieten. Das wissenschaftliche Weltbild beruft sich auf den Anspruch, die Wahrheit zu verhandeln. Wie elegant eine wissenschaftliche Theorie immer sein mag oder wie großartig auch ihr Schöpfer ist – wenn sie nicht mit Experimenten und Beobachtungen übereinstimmt, hat sie keine Chance. Diese Vorstellung, daß Wissenschaft ein reines und objektives Destillat der realen Welterfahrung sei, ist natürlich eine Idealisierung. In Wirklichkeit ist die wissenschaftliche Wahrheit oft sehr viel subtiler und strittiger. Kern aller wissenschaftlichen Verfahren ist die Konstruktion von Theorien. Wissenschaftliche Theorien sind im Grunde Modelle der wirklichen Welt (oder ihrer Teile), und das wissenschaftliche Vokabular bezieht sich überwiegend auf die Modelle, weniger auf die Wirklichkeit. So verwenden Wissenschaftler häufig den Begriff »Entdeckung«, wenn sie einen rein theoretischen Fortschritt meinen. Man hört oft, Stephen Hawking habe »entdeckt«, daß Schwarze Löcher nicht schwarz sind, aber daß sie Wärmestrahlung aussenden. Diese Aussage beruht allein auf einer mathematischen Untersuchung. Niemand hat je ein Schwarzes Loch gesehen, geschweige denn seine Wärmestrahlung wahrgenommen. Die Beziehung zwischen einem wissenschaftlichen Modell und dem realen System, das es vorgibt darzustellen, wirft ernste Fragen auf. Zur Illustration des Problems beginnen wir mit etwas recht Einfachem. Im 16. und 17. Jahrhundert erschütterten die Arbeiten von Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton jahrhundertealte kirchliche Dogmen über die Stellung der Erde im Universum. Galilei wurde von der Kirche verfolgt, weil er die Auffassung des Kopernikus teilte, daß die Erde sich um die Sonne drehe. Das widersprach der herrschenden Theologie. Merkwürdigerweise wandten die kirchlichen Autoritäten sich nicht gegen den Gedanken einer sich bewegenden Erde, solange er nur ein Modell zur Berechnung der Himmelsbewegungen blieb. Unannehmbar war für sie jedoch Galileis Behauptung, daß die Erde sich wirklich bewegt. Nun, damit ist eine interessante Frage aufgeworfen. Woher weiß man, wann ein wissenschaftliches Modell lediglich ein mathematisches Hilfsmittel ist und wann es die Wirklichkeit beschreibt?
Paul Davies, John Gribbin
„Auf dem Weg zur Weltformel –
Superstrings, Chaos, Komplexität.
Über den neuesten Stand der Physik“
Einige der Begründer der Quantentheorie wurden bei der Interpretation ihrer Entdeckungen offenbar nicht unerheblich von weltanschaulichen Motiven zur Überwindung eines mechanistischen Weltbildes geleitet, die – für Laien vielleicht überraschend – gerade bei den Physikern der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sehr verbreitet waren (s. etwa das Buch von Karl von Meyenn über „Quantenmechanik und Weimarer Republik“, Vieweg 1994, das auf Thesen des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Paul Forman beruht, oder Mara Bellers „Quantum Dialogue“, University of Chicago Press, 1992). Zwar hat auch Einstein für die in seiner Theorie formulierte Revolution physikalischer Grundbegriffe zunächst einen operationalistischen Zugang benutzt, der aber unter dem Einfluss von Hermann Minkowski bald durch die konsistente Annahme einer „objektiven“ oder „realen“ vierdimensionalen Raumzeit (damals ebenfalls „Welt“ genannt) ersetzt wurde. Da Einstein als Anhänger eines Humeschen Positivismus seine gekrümmte Raumzeit aber nicht als wirklich beweisbar sondern nur als durch ihre funktionale Nützlichkeit begründet (also im Prinzip als fiktiv) ansah, mag ihm das nicht einmal als ein wesentlicher Unterschied erschienen sein (s. a. die Beiträge Kap. 2, 5 und 15). Eine heuristische Fiktion als Kandidat für die Realität muss aber auf jeden Fall konsistent anwendbar sein.
Diese, meines Erachtens auch in der Quantentheorie erfolgreiche Suche nach einer (fiktiven aber konsistenten) realen Welt erklärt auch den Titel, unter den ich diese Sammlung von Aufsätzen gestellt habe. In diesem Sinne kann man vielleicht Hugh Everett als den Minkowski der Quantentheorie bezeichnen. Max Tegmark hat dessen Interpretation als die „Vogelperspektive“ dieser Theorie bezeichnet – im Gegensatz zu der unserer physikalischen Situation als Beobachter entsprechenden Froschperspektive, auf die sich etwa die Kopenhagener Deutung beschränkt.
Am Ergebnis zeigt sich aber trotz der dabei angenommenen universellen und sogar deterministischen Naturbeschreibung, dass die von vielen Menschen als Bedrohung angesehene Berechenbarkeit „unserer“ Welt durch die Eigenheiten der Quantentheorie schon im Prinzip (also nicht nur praktisch, wie etwa in der Chaostheorie diskutiert) derart eingeschränkt ist, dass unser menschliches und persönliches Schicksal keineswegs durch die Naturgesetze festgelegt ist. Der Determinismus gilt lediglich für die uns eben nur teilweise zugängliche Quantenwelt im Ganzen. Diese muss sich jedoch auf Grund der unitären Quantendynamik ständig in viele nur separat wahrnehmbare „Welten“ aufteilen, was subjektiv viele beobachtbare „Zukünfte“ zulässt. Deren Realität ist zwar letztendlich eine Definitionsfrage, für die jedoch die Konsistenz der Gesamtbeschreibung eine entscheidende Bedingung sein sollte. Diese erfordert aber eine subtile Betrachtung jenseits aller Vorurteile, wobei jede Entscheidung über die so zu wählende Definition tiefgreifende Konsequenzen für das resultierende Weltbild haben muss (s. Kap. 18 und 22).
H. Dieter Zeh
„Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?“
1 Einführung als Lesehilfe
Es gibt demnach viele Modelle einer „physikalischen Wirklichkeit“, die alle Aussagen der Quantenmechanik reproduzieren, aber nicht experimentell zu bestätigen oder voneinander zu unterscheiden sind. Keineswegs widerlegt die Quantenmechanik also zwingend die Annahme einer beobachterunabhängigen Realität in der Mikrophysik – nur hat sich bisher keines der Modelle als besonders nützlich (als eine heuristische Fiktion) erwiesen. Es ist also derzeit eine Geschmacksfrage ob man die (ja vielleicht nur vorläufige) Vieldeutigkeit bei der Modellierbarkeit physikalischer Vorgänge schon zum Anlass einer endgültigen Verzichtserklärung auf irgendein Modell, also auf den Realitätsbegriff in der Naturbeschreibung überhaupt, nimmt. Es gibt zudem noch einen Ausweg im Rahmen der nichtlokalen Wellenfunktion, der nicht die Beschreibung der beobachteten Objekte, sondern die der Beobachter betrifft, ohne dazu irgendwelche willkürlichen Elemente in die Theorie einführen zu müssen (s. Abschn. 6 und weitere Beiträge in diesem Buch).
H. Dieter Zeh
„Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?“
Teil I Wellenfunktion und Realität
Kapitel 2: Realität und Determinismus in der Quantentheorie
Abschnitt 2: Der Realitätsbegriff in der Quantenmechanik
Wenn eine fiktive Wirklichkeit (ein empirisch begründetes Weltmodell unter Einschluss seiner dynamischen Gesetze) gegeben ist, so ist damit auch definiert ob sie deterministisch ist. Ein indeterministisches Modell ließe sich durch Einführung prinzipiell unbeobachtbarer Variablen (die die Rolle rein fiktiver Ursachen übernehmen) stets deterministisch vervollständigen. Das tut das erwähnte Modell von Bohm, und deswegen konnte von Neumann solche „versteckten“ Variablen als Ergänzung der Quantentheorie auch nicht ausschließen, wie er es versucht hatte. Die Frage ist nur, ob ein solches Modell unter heuristischen Gesichtspunkten gerechtfertigt ist – die neuen Variablen also zu irgendwelchen spezifischen Konsequenzen oder einer begrifflichen Vereinfachung führen. Daran sind bisher alle Versuche gescheitert, determinierende Ursachen für die quantenmechanischen Messergebnisse zu konstruieren.
H. Dieter Zeh
„Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?“
Teil I Wellenfunktion und Realität
Kapitel 2: Realität und Determinismus in der Quantentheorie
Abschnitt 5: Der Indeterminismus der Quantentheorie
Ich dachte darüber nach, während wir die Theaterstraße hinunterschlenderten. „Es ist wahrscheinlich die Sprache, die uns gelegentlich daran hindert, Dinge zu verstehen. Wenn ich zum Beispiel sage: ‚Jeder allein ist die Welt und der Ursprung von allem’, dann entzweie ich uns und widerspreche mir dabei auch noch selbst. Wenn ich aber sage: ‚Ich allein bin die Welt und der Ursprung von allem’, dann bin ich einig mit mir. Und jeder, der diesen Satz spricht, mag ihn problemlos für sich geltend machen.“ „Damit verleugnen Sie Wirklichkeit und Nächstenliebe!“ „Nein, mein junger Freund. Auch das liegt einzig an Ihrem Verständnis von den Begriffen Wahrheit und Wirklichkeit. Es kann zwar nur eine Wirklichkeit geben, aber zugleich ganz viele Wahrheiten. Und zwar so viele Wahrheiten, wie es wahre Aussagen geben kann. Ein Egoist spricht per definitionem wahr, wenn er sich für den Anfang und das Ende aller Dinge hält. Sie dürfen also nur Wahrheit und Wirklichkeit nicht miteinander verknüpfen. So wie Sie Liebe und Egoismus nicht in einen Topf werfen dürfen. Egoismus, das ist Wahrheit pur. Man darf ihn aber nicht wirklich leben, wie Sie gerade gesehen haben. Egoismus ist in der Realität nicht durchzuhalten. Wirkliche Liebe dagegen kann ewig dauern. Ist Liebe aber nur wahr, da hält auch sie nicht lang. Der Liebe reicht es nicht, wahr zu sein.“ „Sie meinen, Liebe müssen wir wirklich tun, wenn wir sie nicht auf einer Ebene mit dem Egoismus belassen wollen?“ „Ich meine ja. Ohne die tatsächliche Öffnung gegenüber den anderen Lebewesen, vielmehr noch gegenüber der Welt an sich, bleibt sogar Liebe zu sich selbst sonst ein Traum, eine reine Wunschvorstellung.“
Luk Brandel – Andreas Fornefett
„Das Wirkliche und das Wahre“
DIE PRODUKTION VON FAKTEN
PÖRKSEN: Um diese Zentralthese zu belegen, dass eine wahre Weltbeschreibung unmöglich ist, greifen Konstruktivisten immer wieder auf empirische Forschungsergebnisse zurück. Man hat ihnen daher vorgeworfen, sie seien auf eine naive Weise empiriehörig und würden zwar nicht an die Wahrheit, aber mit unbedingter Emphase an die Ergebnisse der Hirnforschung glauben. Was ist für einen Konstruktivisten, so stellt sich die Frage, Empirie?
SCHMIDT: In meinen Buch Die Zähmung des Blicks versuche ich, eine Antwort zu geben und einen Empiriebegriff aus konstruktivistischer Sicht zu entwickeln. Empirische Forschung besteht für mich in der kontrollierten Herstellung von Fakten; sie hat nichts mit Wirklichkeit oder Wahrheit zu tun, sondern es geht wesentlich darum, bestimmte Verfahrensschritte einzuhalten. Das heißt, dass auch empirisches Wissen nur Wissen von der Welt ist, so wie wir sie erfahren und so wie wir dieses Wissen dann formulieren. Die Fakten, die man herausarbeitet, lassen sich keineswegs im Sinne eines emphatischen Wahrheitsbegriffs interpretieren. Aus diesem Grund spreche ich nun bewusst nicht mehr von einer Datenerhebung, sondern von Faktenproduktion, nicht mehr von Daten, sondern von Fakten: Diese sind gemäß einer wissenssoziologischen Perspektive etwas Gemachtes und Hergestelltes.
PÖRKSEN Man addiert also zum vorhandenen Methodenarsenal der empirischen Forschung lediglich die konstruktivistische Prämisse von der Unmöglichkeit absoluter Wahrheitserkenntnis? Das wirkt etwas unspektakulär.
Bernhard Pörksen
„Die Gewissheit der Ungewissheit –
Gespräche zum Konstruktivismus“
Aber die Tatsachen sind durch Begriffe als ‚Denkmittel‘ und ,Werkzeuge‘ bearbeitet. Deshalb ist die Wahrheit, die wir für unsere Sätze über Tatsachen beanspruchen, eine Funktion der Überzeugungen. Es ist nicht möglich, das „Wirkliche von den menschlichen Anteilen im Prozeß unserer kognitiven Erfahrung zu trennen“. In den Überzeugungen tritt die Realität als unabhängig auf, „als etwas, das gefunden und nicht hergestellt wird“. Doch dies ist nur ein Auftritt auf der Bühne des Wissens. Wo wir einer ‚originalen Wirklichkeit‘ zu begegnen glauben, „handelt es sich bereits um eine Fälschung“. Wir veranlassen den Auftritt der Realität in einer kognitiv geformten phänomenalen Welt, indem wir sowohl den Subjekten als auch den Prädikaten der Wirklichkeit etwas hinzufügen; wir erzeugen Wahrheiten, die in dieser Welt gelten. James bilanziert: „Was wir über die Wirklichkeit aussagen, hängt also von der Perspektive ab, aus der wir sie betrachten. Daß die Wirklichkeit existiert, können wir nicht beeinflussen, aber was sie ist, beruht auf einer Auswahl; und diese Auswahl treffen wir. Sowohl der wahrnehmbare Bereich der Wirklichkeit als auch der Bereich der Beziehungen sind stumm: Sie sagen uns absolut nichts über sich. Wir sind es, die für sie sprechen müssen“. Für die epistemologische Analyse der Möglichkeitsbedingungen von Evidenzen und für eine normative Theorie der Überzeugungs- und Wissensbegründung bzw. Überzeugungs- und Wissensrevision ist eine Phänomenologie der Überzeugungen von Interesse. Tatsachen-Überzeugungen über Alltagswahrnehmungen des Nahen („dies ist Haus Nr. 15“) haben nicht den gleichen Status wie Basisüberzeugungen („die Außenwelt existiert unabhängig vom Bewusstsein und ist erkennbar“) oder moralische Überzeugungen großer Reichweite („die Menschenrechte gelten universal“) oder Metaüberzeugungen, d. h. Überzeugungen über Überzeugungen, etwa über den moralischen Wert oder die epistemische Begründetheit einer Überzeugung.
Johannes Bellmann Thomas Müller (Hrsg.)
„Wissen, was wirkt –
Kritik evidenzbasierter Pädagogik“
Drei Einwände
Gegen die Evolutionäre Erkenntnistheorie werden zahlreiche Einwände erhoben. Drei davon sollen hier zur Sprache kommen. a) Der hypothetische Realismus macht Gebrauch von der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Danach ist eine Aussage wahr, wenn das, was sie sagt, mit der Wirklichkeit »da draußen« übereinstimmt. Wie aber wollen wir diese Wirklichkeit erkennen und damit Wahrheit feststellen? Einen unabhängigen Zugang zur Wirklichkeit haben wir nicht; den hat allenfalls Gott. Wir Menschen können diese Gottesperspektive nicht einnehmen, die Welt an sich nicht erkennen und deshalb Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne nicht feststellen. Soweit dieser Einwand berechtigt ist, trifft er alle Arten von Realismus (außer vielleicht den internen Realismus, den Hilary Putnam zeitweise vertreten hat, der aber genau genommen gar kein Realismus mehr ist). Tatsächlich sind wir keine Götter. Das ist aber auch gar nicht nötig. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit liefert nämlich gar kein Wahrheitskriterium, sondern zunächst nur eine Definition der Wahrheit. Erfüllbare hinreichende Kriterien für Wahrheit gibt es, wie die Erkenntnistheoretiker nach zweieinhalb Jahrtausenden vergeblicher Suche und wachsender Zweifel einsehen mussten, tatsächlich nicht. Was wir haben, sind notwendige Kriterien wie Konsistenz, Bewährung, Kohärenz, Konsens, wie sie von den verschiedenen Wahrheitstheorien hervorgehoben werden. Für die Definition von Wahrheit greifen alle diese Theorien letztlich doch auf die Korrespondenztheorie zurück. (Wo das nicht geschieht, ist der Wahrheitsbegriff im Grunde überflüssig.) Man könnte einwenden, die Gottesperspektive stelle eine unzulässige Idealisierung dar. Doch kommt keine Wahrheitstheorie ohne solche Idealisierungen aus. Der interne Realismus zum Beispiel sieht als wahr an, was am Ende aller Forschung über die Welt behauptet wird. Wenn das keine Idealisierung ist! Gegen den zuletzt erhobenen Einwand verteidigen sich Realismus und Korrespondenztheorie also mit einem Tu-quoque-Argument: Ja, es handelt sich um eine Idealisierung; aber andere Wahrheitstheorien benützen vergleichbare Kunstgriffe. b) Ist die Passung unserer kognitiven Strukturen zirkelfrei feststellbar? Müßte man dafür nicht die Realität unabhängig von unseren kognitiven Strukturen kennen und erkennen? Dieser Einwand ist stärker als der vorige, weil es jetzt nicht mehr nur um die Definition von Wahrheit, sondern um Erkenntnis der Wirklichkeit geht, weil die Evolutionäre Erkenntnistheorie hier also einen höheren Anspruch erhebt.
Gerhard Vollmer
„Wieso können wir die Welt erkennen? Neue Argumente zur Evolutionären Erkenntnistheorie“
… das „Selbst“ ist wie ein in der Physik angenommenes, aber nicht existierendes Zentrum der Schwerkraft. Dennett nennt es entsprechend „the center of narrative gravity“ – das Zentrum der erzählerischen Schwerkraft. Die fragmentarischen Prozesse im Gehirn erzeugen erzählerische Fragmente: In jedem taucht ein „Beobachter“ auf, aber es existiert kein Beobachter jenseits der Wahrnehmungen. Wie bereits Hume konstatierte, dass er ohne Empfindungen und Wahrnehmungen kein „Ich“ finden könne, sondern dass sich das „Ich“ grundsätzlich im Zusammenhang mit diesen Empfindungen ergibt und nicht unabhängig davon, ist auch Dennett der Überzeugung, dass dieses „Ich“ ein wesentliches Element des cartesischen Theaters darstellt, aber kein separates Element oder eigenen „Draft“ im Gehirn.
Anja Stemme
„Deus et machina: Der Geist und die Naturwissenschaften“
Naturwissenschaft beschränkt das, was nicht mehr geprüft werden kann und daher vorausgesetzt werden muss, auf ein Minimum – nämlich die Existenz und die (relative) Erkennbarkeit der Welt außer uns – und lässt nur „natürliche Ursachen“ zu. Diese als methodischer Materialismus bezeichnete Voraussetzung der Naturwissenschaften schränkt die Dinge, über die Naturwissenschaft reden kann, ein, macht aber durch die Überprüfbarkeit die naturwissenschaftlichen Erklärungen außerordentlich verlässlich. Dafür „weiß“ Naturwissenschaft nichts von dem Rest der Welt, hier sind andere Formen des Wissens (z.B. auch religiöses Wissen) gefragt.
Daniel Dreesmann; Dittmar Graf; Klaudia Witte (Hrsg.)
„Evolutionsbiologie –
Moderne Themen für den Unterricht“
„Paulus –
der Völkerapostel in jüdischer Sicht“
Ich lebe vor lauter Spiegeln und vor lauter Augen, die mich beobachten.
Pirandello
16 Jahre lang lebte er mit dem Wahn unter dem gleichen Dach: Als Pirandello 1903 durch ein Grubenunglück das in Schwefelbergwerken investierte Vermögen seines Vaters und seiner Frau verlor, versank seine Frau Antoinetta in eine Gemütskrankheit; wenn sie nicht geistig abwesend war, tyrannisierte sie ihn mit rasender Eifersucht. Keine Frau durfte ihr Haus betreten, und sogar die weiblichen Dienstboten mußten es abends verlassen und das 50. Lebensjahr überschritten haben. Pirandello versteckte seine literarischen Arbeiten vor Antoinetta – überall vermutete sie geheime Liebesbotschaften. Er nahm seine Kinder mit, wenn er ausging, damit er Zeugen hatte für jede Minute des Tages. Er akzeptierte es, daß seine Frau ihn anders sah als er sich selber; sie lebte für ihn in einer anderen Wirklichkeit, und er fragte: »Wer wollte entscheiden, welche die wahre ist?«
Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit? Ist die Wirklichkeit nicht nur eine andere Art Wahn? Ist der Mensch nicht nur ein Bild, das er sich von sich selber macht, und ist er nicht zugleich auch eine Reihe von anderen Bildern, die sich andere Menschen von ihm machen? Welches ist das richtige? Gibt es überhaupt ein richtiges Bild, oder gibt es nur eine Vielzahl von Bildern, die alle aus ihrer jeweiligen Perspektive richtig sind? Was ist Schein, was ist Sein? Ist das Sein nicht eine andere Art von Schein? Was steckt hinter diesen Schein-Bildern, hinter diesen Masken? Sind es nicht immer neue Masken, und verdecken sie nicht nur – das schiere Nichts?
Georg Hensel über Luigi Pirandello „Im Spiegelkabinett der Masken“
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Nach dem in Kapitel 2 beschriebenen holografischen Prinzip kann die Information über das, was in einer Region der Raumzeit geschieht, auf ihrem Rand kodiert werden. So bilden wir uns vielleicht ein, wir lebten in einer vierdimensionalen Welt, weil wir Schatten sind, die durch das Geschehen im Innern der Blase auf die Bran geworfen werden. Doch aus positivistischer Sicht können wir nicht fragen: Was ist Wirklichkeit, Bran oder Blase? Beide sind mathematische Modelle, die unsere Beobachtungen beschreiben. Es steht uns frei, das jeweils geeignetere Modell zu verwenden.
Stephen Hawking
Das Universum in der Nussschale
Erich Fried
Realitätsprinzip
Die Menschen lieben
das heißt die Wirklichkeit hassen.
Wer lieben kann
der kann alles lieben
nur sie nicht
Die Wahrheit lieben?
Vielleicht.
Erkennen kann Lieben sein.
Aber nicht die Wirklichkeit:
Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit
Was wäre das
für eine Welt
wenn die Wirklichkeit
diese Wirklichkeit rund um uns
auch die Wahrheit wäre?
Die Welt vor dieser
Wirklichkeit retten wollen.
Die Welt wie sie sein könnte lieben:
Die Wirklichkeit aberkennen