Søren Nils Eichberg – Sinfonie Nr. 1 und das Chaos
„Stürzten wir uns ins Feuer“
Eichbergs Sinfonie Nr. 1 wurde zuerst im Jahr 2006 vom Odense Symphony Orchestra aufgeführt und muß bereits als ein „Frühwerk“ betrachtet werden. Es sind vier ohne Pause aufeinander folgende Sätze und ihr Motto lautet „Stürzten wir uns ins Feuer“. Diese Worte stammen aus dem Buch „Das Evangelium nach Jesus Christus“ des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago. Das vollständige Zitat ist eine Weltuntergangs-Vision, die wie folgt lautet:
„… Und wären wir so tollkühn oder unbedacht wie die Schmetterlinge und Motten, und stürzten uns in die Flammen, alle und jeder, die gesamte Menschheit – dann vielleicht wäre das Feuer so heftig und das Licht so grell, daß Gott Seine Augen öffnete und daß er erwachte aus seinem trägen Dösen – aber wahrscheinlich zu spät für ihn, als daß es ihm noch gelänge unsere Existenz wahrzunehmen, aber es bliebe ihm doch Zeit genug, um den Beginn des großen Nichts zu bemerken, nun, da wir nicht mehr da sind …“
Diese Vision faszinierte Eichberg sofort, als er den Roman las.
„Für den Menschen gibt es etwas, was ihn unmittelbar und magisch an der kollektiven Selbstzerstörung und an der Katastrophe als solcher anzieht, obwohl sie eigentlich unlogisch ist, die Zeit nach der Zeit, nach der wir uns kopfüber in das Feuer stürzten“, sagt er. „Ich wußte sofort, daß ich das Zitat in der Musik verwenden wollte.“ (warum wir uns zuweilen wie Lemminge verhalten, kann uns die Chaostheorie plausibel machen, siehe weiter unten)
Für Søren Nils Eichberg war es ein weiterer Grund, das Zitat seiner Sinfonie Nr. 1 voranzustellen, daß es seine Gefühle über die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt. „Europa hatte einst mehrere Angriffskriege ausgelöst, und die politischen Strömungen, die 60 Jahre zuvor Europa in Schutt und Asche gelegt hatten, waren schon wieder auf dem Vormarsch. In Dänemark durften sie sogar parlamentarischen Einfluß gewinnen. Die Muhammad-Karikaturen erschienen ebenfalls zu dieser Zeit,“ erklärte Eichberg. Die Symphonie ist ein gewalttätiges Werk, eines, in dem brutale, heftigste Ausdrucksformen verwendet werden.
„Die selbstgefällige und heroische Geste der Symphonie ist nicht nur eine abstrakte, künstlerische Pose“, sagt Eichberg, „sie ist auf jeden Fall auch eine Bezugnahme auf den pompösen Ausdruck der Musik zum Beispiel von Strauss und Pfitzner, des Nationalismus und der Lust an Katastrophen, welche zum Zweiten Weltkrieg führten – und damit ist es auch ein sarkastischer Hinweis auf die heutige Zeit.“
„Komponieren ist etwas, was ich schon immer getan habe.“ Søren Nils Eichberg hat eine Ausbildung als Pianist absolviert und sich seine Qualifikation als Komponist selbst erworben. Die Technik der Orchester-Komposition erwarb er durch seine Dirigentenpraxis und als praktizierender Musiker, er tritt öffentlich sowohl als Pianist als auch Dirigent auf. In den letzten Jahren hat aber auf jeden Fall Komposition bei ihm die Oberhand gewonnen. [Nach dem Text von Jens Cornelius im CD-Inlay]
Zu seinem Leben und seinen weiteren Werke findet der Interessierte weitere Informationen auf der Website von Søren Nils Eichberg.
Kapitel 6.5 „Edge of chaos: die ultimative Komplexität“
aus
Frank-Michael Dittes
Komplexität – Warum die Bahn nie pünktlich ist
Zusammenfassung
Was haben die Betrachtungen des vorangegangenen Abschnitts nun mit Komplexität zu tun? Die dort vorgestellten Strukturen liegen zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Stabilität und Instabilität. In Kap. 2 hatten wir an dieser Grenze das kritische Verhalten eines Systems gefunden, in Kap. 3 betont, dass Strukturen auf allen Skalen ein wesentliches Kennzeichen von Komplexität sind. Kapitel 4 schließlich hat eine Reihe von Modellen vorgestellt, die Systeme im kritischen Punkt beschreiben. In den vorangegangenen Abschnitten haben wir über den kritischen Punkt hinaus geschaut und gesehen, dass sein Überschreiten zur Instabilität des Systems führt. Aber auf den kritischen Punkt gebracht, erreichen Systeme gerade ihre maximale Komplexität.
In Abschn. 6.2 hatten wir illustriert, dass die Erhöhung der Komplexität mit einer Reihe von Vorteilen für das System verbunden ist. Insbesondere die Verbesserung von Funktionalität und Flexibilität sind Komplexität und Chaos hier zu nennen. Gleichzeitig kam die Kehrseite wachsender Komplexität zur Sprache: die Gefahr des Abgleitens ins Chaos, in die Instabilität – und das ist eigentlich auch kein erstrebenswerter Zustand. Im Wettstreit werden sich Systeme daher bemühen, so schnell wie möglich zu wachsen, ihre Komplexität also maximal auszubauen, aber gleichzeitig versuchen stabil zu bleiben. Sie streben also nicht zum Chaos, sondern zum Chaosrand. Anfang der 1990er Jahre wurde dafür der Begriff edge of chaos geprägt. Der uns aus Abschn. 6.2 bekannte Stuart Kauffman und seine Mitstreiter argumentieren, dass dies der optimale Punkt ist, an dem sich komplexe Systeme aufhalten – er repräsentiert die ultimative Komplexität.
Das Streben zum Chaosrand geschieht dabei sowohl von der Seite der Ordnung als auch von der des Chaos aus. Systeme versuchen, dem Chaos zu entkommen – der Mechanismus dazu ist die Selbstorganisation, d. h. die Strukturbildung aus dem Chaos [10–15]. Bereits im Wachstumsmodell von Abschn. 6.3 haben wir diese Bildung von Ordnung mitten im Chaos beobachten können: Bei bestimmten Werten der Vermehrungsrate trat urplötzlich wieder ein periodisches Verhalten auf und das System strebte zu einer endlichen Anzahl von Zuständen, s. Abb. 6.4d.
Für technische Systeme ist der Aspekt der Selbstorganisation nicht relevant, vielleicht sollte ich sagen: noch nicht. Technische Systeme werden schließlich konstruiert, in ihnen soll alles unter Kontrolle bleiben. Wenn sie sich schon der Chaoskante nähern, dann bitteschön von der Seite der Regularität her! Dass das nicht so bleiben muss, zeigen u. a. Ansätze aus der Verkehrsleittechnik, die an der TU Dresden und der ETH Zürich zur dynamischen Steuerung von Ampeln entwickelt wurden [16]. Jede Ampel reagiert dabei auf die gesamte Verkehrslage. Die sich ausbildenden grünen Wellen sind häufig wesentlich effektiver als alle zentral planbaren Einstellungen und führen zu signifikanten Verringerungen der Stand- und Wartezeiten.
Wichtig
Edge of Chaos heißt für das System: Gehe an Deine Grenzen und bleibe dort. Entwickle Strukturen, die gerade noch beherrschbar sind. Nimm in Kauf, dass damit Störungen, Unfälle, ja Katastrophen verbunden sind, unter Umständen beliebig große!
Das Streben zum Chaosrand treffen wir auf Schritt und Tritt. Nehmen wir einen Leistungssportler. Nur mit vollem Einsatz kann er sich gegen andere Sportler durchsetzen. Er wird trainieren, an seine Grenzen gehen, alle erlaubten Mittel ausschöpfen – und er könnte versucht sein, auch unerlaubte zu nutzen. Damit setzt er sich allerdings einem hohen Risiko aus. Das Überschreiten der körperlichen Grenzen führt zu Verletzungen, der Einsatz unzulässiger Mittel kann zur Disqualifikation führen. Für den Einzelnen ist das eine Katastrophe – und die Gefahr, in eine solche zu laufen wird ihn tendenziell zurückhalten, gar zu weit zu gehen. Im System aller Sportler werden sich aber immer Vertreter finden (und es finden sich immer wieder welche!), die versuchen, den kritischen Punkt zu erreichen. Und damit treiben sie das System Sport auch immer wieder an diesen Punkt.
Wir beobachten es in der Wirtschaft. Schon Karl Marx zitierte einen zeitgenössischen Ökonomen mit den Worten: „Das Kapital hat einen Horror vor der Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“ [17]
Und im Bereich der Technik? Edge of chaos heißt hier: gehe an den technologischen, an den material-technischen Limit. Gehe an die Grenze, mach das gerade noch Machbare. Nur dort kannst du der Beste sein. Wie dicht man an den kritischen Punkt gehen muss oder darf, hängt von der Situation ab. In der Weltraumforschung, in der Formel 1, bei Versuchen, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen, sicher ganz dicht. Im Alltag ist ein gehöriger Abstand zum Chaosrand aber unbedingt empfehlenswerter.
Wichtig
Systeme tendieren dazu ihre Grenzen auszutesten. Sie nähern sich dadurch einem kritischen Punkt mit maximaler Komplexität. Das Überschreiten dieses Punktes bringt chaotisches Verhalten mit sich. Der optimale Zustand eines Systems liegt kurz vor dem kritischen Punkt. Das hatten wir bereits in den Kap. 2 und Kap. 4 gesehen. Dort waren es das Kettenreaktionsspiel und das Aufhäufen von Sand.
Beide Male lag die optimale Vorgehensweise dicht vor dem kritischen Punkt, an dem das Systemverhalten von Stabilität in Instabilität umschlug.
Herbert Grönemeyer hat Reiz und Gefahr des Chaosrands schon 1991 erkannt. Praktisch zeitgleich mit dem Aufkommen der Idee vom edge of chaos sang er in seinem Song Haarscharf [18]:
Haarschaaaaarf am Abgrund
So gerade noch den Absprung
Im letzten Moment von der Klinge
…
Es ist kaum anzunehmen, dass Grönemeyer von Kauffman oder gar Kauffman von Grönemeyer abgeschrieben hat. Es war der Zeitgeist, der sich hier Bahn brach und zusammen mit der Komplexität auch deren Kehrseite – das Chaos – ins Bewusstsein rückte.
Literatur:
[1] Hesiod, Theogonie, übersetzt von H. Gebhardt, bearbeitet von E. Gottwein
[2] A Vilenkin, Kosmische Doppelgänger. Wie es zum Urknall kam – Wie unzählige Universen entstehen, Springer, 2007
[3] S Kauffman: The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution. Oxford University Press1993
[4] S Kauffman: At Home in the Universe. Oxford University Press 1995
[5] S Kauffman: Der Öltropfen im Wasser. Chaos, Komplexität, Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft. Piper, München 1996
[6] L Carroll: Die Alice-Romane. Alices Abenteuer im Wunderland. Durch den Spiegel und was Alice dort fand. Reclam 2010
[7] M du Sautoy: Eine mathematische Mystery Tour durch unser Leben. Verlag C. H. Beck, München, 2011
[8] B B Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur. Birkhäuser Verlag 1989
[9] R Witt, Bionik – Patente der Natur. PRO FUTURA Verlag GmbH, München, 1991
[10] M Eigen: Stufen zum Leben. Die frühe Evolution im Visier der Molekularbiologie. Piper 2000
[11] M Eigen, R Winkler: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. Rieck 2010
[12] H Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, Rowohlt 1995
[13] H Haken: Die Selbstorganisation komplexer Systeme – Ergebnisse aus der Werkstatt der Chaostheorie, Picus Verlag GmbH 2004
[14] W Ebeling, R Feistel: Physik der Selbstorganisation und Evolution. Akademie-Verlag, Berlin 1982
[15] W Ebeling, R Feistel: Chaos und Kosmos. Prinzipien der Evolution. Spektrum Akad. Verl., Heidelberg u. a. 1994
[16] S Lämmer, J Krimmling, A Hoppe: Straßenverkehrstechnik 11 (2009) 714
[17] T J Dunning: Trades’ Unions and strikes: their philosophy and intention. London 1860, zitiert nach: K Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23
[18] H Grönemeyer: Haarscharf, Album Luxus, 1991