Die frühesten Erinnerungen
Inhalt
Falsche Erinnerung?
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“
Blicke ich in den Brunnen meiner Vergangenheit, sehe ich sehr tief unten einen Soldaten, der mich auf dem Arm trägt; er macht Späße mit mir; wir standen vor einem grauen Tor außerhalb Erfurts; meine Mutter will mich nehmen; ich wehre mich schreiend; wir, das sind meine Mutter und meine Geschwister, müssen uns verabschieden; ein langer, trauriger Weg liegt vor mir, ich konnte damals noch nicht laufen und doch wurde er mir unendlich lang. Noch Jahre später, immer wenn ich mit dem Zug nach Greifswald fuhr, sehe ich wie in einem Film diese Szene, sobald ich mit dem Zug Erfurt verließ – ich sehe diese Kaserne am Stadtrand mit genau jenem Tor, das sich verschwommen im Brunnen meiner Erinnerungen spiegelt.
War dieser Soldat unser Fritz, der am 4. August 1943 bei Smolensk gefallen ist? Da ich im Mai 1942 geboren wurde, kann ich allenfalls ein Jahr alt gewesen sein. Kann man sich überhaupt so weit zurück erinnern? Nennt man das nicht „False Memory Syndrome“? Meine Geschwister sagen, dass ich das gar nicht erlebt haben könne, sie jedenfalls erinnern sich nicht daran, dass ich je zum Besuch meines Bruders Fritz nach Erfurt mitgenommen wurde.
Gefühlsmäßige Ausnahmesituationen prägen sich vielleicht besonders tief in das Gedächtnis ein. So stehe ich als ganz kleiner Wicht mit einem bunten Schlafanzug in unserer Küche auf der Bank, meine Geschwister hänseln mich: „bunt gescheckter Riesenschreck“ – ich empfand das als Verspottung, gar Herabsetzung und so schrie und trampelte ich wütend auf der Bank herum, bis ich kurzerhand ins Bett befördert wurde. Meine Geschwister bestätigten mir, dass ich damals noch keine zwei Jahre alt war, obwohl sie auch hier bezweifeln, dass ich mich wirklich daran erinnern könne. Die hilflose Wut von damals jedoch ist mir noch heute vollkommen bewusst. Sich unverstanden fühlen, das Gefühl zu haben sich nicht dem Begebenheit entsprechend ausdrücken zu können, weil die Affekte überkochen. Ähnlich dem gleichfalls erinnerten Gefühl, dass mich zwang das Sprechen zu lernen.
Allerdings war ich keineswegs unerwünschtes Kind, ganz im Gegenteil – als Nesthäkchen, der Jüngste eben, wurde ich von allen verwöhnt und durfte mir auch eine ganze Menge Freiheiten nehmen, die den Geschwistern nicht zugebilligt wurden. Das Essen damals war recht eintönig, es war ja Krieg und die erste Zeit danach war auch nicht viel besser. Abends gab es zumeist saure Milch mit Pellkartoffeln oder Salzkartoffeln und Soße (eine Mehlschwitze mit Speck, die mit Wasser aufgefüllt wurde). Die Mehlschwitze war gar nicht nach meinem Geschmack. Aber samstags hatte ich meinen großen Tag. Da wurde Kuchen gebacken, „Kreimbelskoche“ (Streuselkuchen, mit sehr vereinzelt angeordneten Streuseln) zumeist und dieser war meine Lieblingsspeise, vor allem wenn er frisch war. So lief samstagabends das immer gleiche Ritual ab.
Ich: „Ich will kei Kartoffel un Soße“
Die Anderen, vorzugsweise die Geschwister: „Bos willste dä?“
Ich: „Bos eij mei gah wollt“
Die anderen: „Willste dä Kartoffel un Soße?“
Ich: „Nä“
Das Spiel konnte nun je nach Geduld der Anwesenden so lange fortgesetzt werden, bis endlich jemand des endlos fortsetzbaren Dialogs überdrüssig wurde und fragte:
„Willste dä Kreimbelskoche un Melich?“ (Streuselkuchen und Milch) und ich: „Jo!“
Gut erinnern kann ich mich noch an unsere Walja, ein Mädchen aus der Ukraine, die uns vor Weihnachten 1943 als Zwangsarbeiterin zugeteilt wurde. Wieder ein Abschied, der sich tief in mir einprägte. Ich hing sehr an ihr und entsprechend schlimm war es für mich, als sie von den Amerikanern wieder in die Sowjetunion zurück geschickt wurde. Die Amerikaner kamen in den Morgenstunden des 1. Osterfeiertages 1945 (11. April) von der Diebesleite her in unser Dorf. Ich kann mich noch an die Grauen einflößenden Ungetüme, die Panzer, erinnern, als sie mit einem ohrenbetäubenden Lärm über die enge Dorfstraße rasselten. Nicht weniger müssen wohl die Schreie der Eltern gewesen sein, die mich dreijährigen Winzling ins Haus diktierten.
Wir Kinder bettelten nie erfolglos in ihrem Feldlager an der Trift nach „Schokoläd“ und Bohnenkaffee für unseren von Migräne geplagten Vater. Die Amis waren uns jedenfalls in besserer Erinnerung geblieben, als die im Juli 1945 nachrückenden Russen; viel mitgekriegt habe ich als Kind von denen nicht. Geschenkt dagegen haben sie uns nichts, vielmehr ist im Dorf mancherlei den Leuten „abhanden gekommen“. Direkt betroffen waren wir, als uns eine Muttersau, die mein damals 11 Jahre alter Bruder Horst nach Oechsen zum Eber treiben sollte, bei Borchardts Schmiede in der Nähe des Schafhofes von einem „Russen-LKW“ tot gefahren wurde. Auch die damalige Aufregung ist mir im Gedächtnis verhaften geblieben, auch wenn ich lange Zeit unsere alte Oma Marie, die damals immerhin schon 76 Jahre alt war, aus unerfindlichen Gründen mit diesem Ereignis in Zusammenhang brachte. Vielleicht weil sie bis ins hohe Alter noch gut zu Fuß war und viele Wege ins Dorf und außerhalb gerne zu Fuß erledigte?
Die erste Erinnerung. Wann beginnt für den Menschen die Vergangenheit? Eine Umfrage und ein Wissenschaftsreport Von Dieter E. Zimmer
siehe auch den Blogbeitrag Julia Shaw: Meine Version der Wahrheit
Unsere Oma Mariechen
Ach ja, unsere Oma
(leider habe ich nur ein Bild von ihr auf dem SMAD-Ausweis) – auch von ihr muss ich unbedingt erzählen. Sie wurde 1869 in Bad Kösen im Café Hämmerling geboren. 1781, also 88 Jahre bevor Mariechen geboren wurde, ist das Café bereits erbaut worden und 1903 der Familie Schoppe verkauft. Es befindet auch heute noch im Besitz der Schoppe-Nachfahren.
Mariechen kam später als Mamsell in das Rittergut des Unteren Schlosses nach Gehaus. Die Weimarer Regierung verfügte 1851 die Allodifizierung, d. h. die Ablösung bzw. Umwandlung des lehnbaren Besitzes (der Pachtländereien) in privates Grundeigentum. Diese wird 1870 in Vorbereitung der Gründstückszusammenlegung (Separation bzw. Flurbereinigung) für das Rittergut im Unteren Schloss in Gang gesetzt. Im Verlaufe dessen wird das Rittergut später aufgelöst und Mariechen musste eine neue Bleibe finden.
Durch etwas verworrene Umstände wird die „Tochter aus gutem Hause“, die eine beachtliche Mitgift mitbringt, in den verschuldeten Hof des Urgroßvaters als Schwiegertochter verkuppelt. Und so verwandelt sich die in landwirtschaftlichen Dingen völlig unbedarfte Konditorstocher und Mamsell in eine Bauersfrau, aber eben nicht wirklich. Ihre Mitgift wird vom Urgroßvater kräftig für Schulden und zwecks eines längeren Besuchs seiner in die USA ausgewanderten Kinder aus erster Ehe erleichtert. Der Rest der Mitgift wäre indessen der Inflation zum Opfer gefallen, wenn ihr Bruder, ein Bankkaufmann, ihn nicht sicher angelegt hätte. Von diesem Geld konnte dann die Scheune ausgebaut werden, die heute in dieser Größe eigentlich leider gar nicht mehr gebraucht würde.
Mariechen beteiligt sich gerne an wohltätigen Projekten der Frau Gräfin, weil ihr der Umgang mit der Frau von Wangenheim einfach besser liegt als die Bauernwirtschaft. Zu Hause erntet sie vom Urgroßvater nur Hohn und Spott wegen ihrer „vornehmen Sprache“ – dabei ist sie offenkundig, zum Nutzen von uns Kindern, hoch gebildet. Sie sprach halt Hochdeutsch und hatte große Probleme das Gehauser Rhönplatt richtig auszusprechen, auch wir Kinder machte uns in unserer Unerfahrenheit hin und wieder lustig über ihre unbeholfenen Versuche, bestimmte Worte im Gehauser Platt auszusprechen, wenn sie keine passende hochdeutsche Entsprechung einfallen wollte. Durch sie habe ich Hochdeutsch sprechen gelernt, was ich allerdings zu Hause auch nur mit ihr sprach. Weder Eltern noch Geschwister durften Hochdeutsch mit mir sprechen, ich empfand das als abwegig: „Êi sollt rechtig mit mê schwatz!“ bockte ich dann immer.
Ich kenne Oma nur als umtriebig und ständig auf Achse, sie war zwar sehr kurzsichtig, doch außerordentlich gut zu Fuß. Ging sie ins Dorf dauerte es gewöhnlich sehr lange, bis sie zurückkam: „Die Leute haben mich aufgehalten“ war ihre Standardentschuldigung. Sie ging noch als Achtzigjährige fast wöchentlich nach Stadtlengsfeld in die Apotheke, kaufte dort Medikamente für unseren Vater, brachte dem Apotheker und guten Bekannten Eier und Butter mit.
Lesen war ihre große Leidenschaft! da sie extrem kurzsichtig war, stand sie abends oft lange Zeit, die Brille in der einen, eine Zeitung in der anderen Hand, direkt unter der Stubenlampe und las – alles um sich herum vergessend.
Großmutter schien für uns Kinder unsterblich, so quicklebendig und geistig munter war sie bis ins hohe Alter. Doch mit 91 Jahren starb sie vollkommen überraschend an einer Gehirnblutung, die nach einem nächtlichen Sturz aus dem Bett einsetzte. Dies war der erste Tod eines Menschen, den ich bewusst erlebte.
War sie in bäuerlichen Dingen auch sehr unerfahren, so wusste sie doch die Familienehre geschickt wieder einzurenken, wenn ihre Kinder diese verletzten – nicht immer zum Wohl ihrer Kinder. Aber das sind Geschichten, die ich erst sehr viel später von meinen Geschwistern erfuhr. Es war eben eine Zeit damals, in der die unbefleckte Familienehre noch wesentlich mehr zählte, als das Wohl des Einzelnen.
Die Eltern
Erst im Nachhinein habe ich von meinen Geschwistern in diesem Zusammenhang nicht Geahntes über die großartige Menschlichkeit meines Vaters gehört. Hatte er schon meine unbedingte Achtung, als ich noch Kind war, so würde ich mir heute wünschen, nach allem was ich über ihn erfahren habe, dass ich ihn heute zum Freund hätte.
Mein Vater schlug uns eigentlich nicht, trotzdem habe ich zweimal verdient meine Prügel bezogen. Deren Sinn war mir schon klar damals und ich habe ich auch heute keine Zweifel, dass sie notwendig waren, selbst nicht daran, dass sie mir geholfen haben. In gewissem Sine schließen sie auch eine schlimme Situation endgültig ab, eröffnen einen Neubeginn – eine Moralpredigt voll schlimmer Vorhaltungen, nach der man das Gefühl hat, nun für ewig gezeichnet zu sein, erdrückt lediglich, macht klein. Obwohl ich ein Muttersöhnchen war, bei der Mutter gerne Zuflucht suchte – die entscheidenden Anleitungen zu einem selbstbestimmten Leben gab mir mein Vater. Als Kinder mussten wir auf unserem Bauernhof immer mit anpacken und immer war es vor allem unser Vater, der uns durch sein Vertrauen Mut machte, Aufgaben eigenständig zu erledigen, während Mutter mich für vieles noch für zu klein hielt, mich mit ihrer Fürsorglichkeit an ihren Schürzenzipfel band, was ich mir als Nesthäkchen nur allzu gerne und allzu oft gefallen ließ.
Mutter erteilte zwar öfter mal eine Ohrfeige, merkwürdigerweise kann ich mich nicht an eine einzige solche Gelegenheit erinnern, so wenige Eindrücke hat das offensichtlich bei mir hinterlassen. Mutter war auch mehr für das Schmusen brauchbar, für das Trösten. Und so mochte ich jeden der beiden Elternteile wegen seiner besonderen Art.
Bildergalerie
Bücher und DVD über Geschichte, Landschaft und Kultur der Rhön und Thüringens
– nach Themen sortiert –
zu bad koesen ist ein fehler unterlaufen.die baeckerei haemmerling wurde 100 jahre vor deinen erwaehnten termin gebaut.wir ulla,regina,peggy,karl und ich waren am 14.03.2014 im kaffeehaus schoppe .in der speisekarte ist das jahr 1781 als baujahr erwaehnt.es gab sogar haemmerlingschen matzkuchen.m.h.g horst.
Tatsächlich! Auf der Internetseite des Cafés Schoppe steht ebenfalls:
Danke, meine Seite wird sofort an diese Aussage angepasst.