Wir Rhöner wollen nicht zurück in die „gute alte Zeit“

Ich hoffe, meine Leser haben diesen, für meinen Geschmack  etwas zu wehmütigen neun Betrachtungen über das „Land der armen Leute“,  die das einfache Leben der „oarme Lüt“ in romantischen, rückwärts gewandten Seelen sehnsüchtelt, solange sie dieses Leben nicht mit ihnen teilen müssen, ohne Schaden an ihrer modernen Seele zu nehmen, heil überstanden. Die Überschrift sagt schon, was jetzt kommen wird:

Die Rhön einst und heute.
(Gedanken über unsern Anteil am Weltkrieg aus dem Schulbetrieb von Lehrer Munk in Melpers aus den „Heimatglocken für Gehaus“ vom September 1916).

Tripp trapp – tripp trapp klappern die hölzernen Schuhe die hartgefrorene Dorfstraße entlang. Das sind die armen Kinder, die sich in aller Wintermorgenfrühe ein Stückchen Bettelbrot im reichen Oberfladungen holen. Du mußt nun aufstehn und Kaffee kochen, es wird bald Zeit zur Schule!„Großmutter, du träumst“, sagt ihr kleiner Enkel Max, „es ist ja niemand auf der Straße, horch doch, das sind ja die Dreschflegel, die sprechen klipp, klapp drüben in der Scheune.“
Ja Großmutter Luise hat geträumt, wir leben nicht im Jahre 1860, sondern 1916, und Bettelkinder, Bettelleute gibts in Melpers schon gar lange nicht mehr und nirgends sonst in der Rhön.
Freilich als Großvater und Großmutter jung waren, lebte ein großer Teil der Einwohner vieler Rhöndörfer von Bettelbrot. Die Straßen waren dortmals bevölkert mit Bettelleuten. Ach wie dürftig und armselig war in jener Zeit, die gar nicht so lange zurückliegt, überhaupt bei uns Nahrung – Kleidung – Wohnung. Wenn 1879 die Auswanderung aus Deutschland auf 130.000 stieg, so war die Rhön reichlich beteiligt, und auch in Melpers kehrten viele ,,der armen Rhön, dem armen Melpers“ den  Rücken und suchten ein besseres Los in Amerika. „Die arme Rhön!“ Wohl war sie es einst, als Deutschland auf seinen dazu so kümmerlichen Ackerbau angewiesen war. Jetzt sind es Märchen geworden, die sie sich draußen erzählen, die sie sogar noch in Bücher schreiben. Wir Rhöner lächeln dazu und sagen: „Vater, vergib ihnen, denn sie haben sie nicht gesehn“!“ Die aber, die zu uns kommen und sie schauen und kennen lernen, tun die Augen weit auf und sagen mit uns:
„Die schöne, die reiche Rhön!“
Wie das kam? Den Um- und Aufschwung sehen wir älteren mit Janusgesicht rückwärts in die Vergangenheit Schauenden seit dem Jahre 1870/71, nach dem Kriege mit Frankreich, indem sich das einige Deutschland gleicherweise zu einem blühenden Landwirtschafts-, Industrie- und Welthandelsstaat entwickelte. Diese Entwicklung können wir gerade in Melpers deutlich verfolgen. Vorher saßen wir an den langen Winterabenden beim trüben Spanlicht. Mit dem bißchen Leinöl, das man beim Flachsbau gewann, würzte man ausnahmsweise die Kartoffeln, die man für gewöhnlich trocken und wohl dreimal täglich aß; viele mußten das ohne Salz, denn ein paar Pfennige waren viel Geld und ein Stückchen Brot etwas Köstliches.
Da kam der erste Industriezweig, die Plüschweberei nach Melpers. Bald klapperten in schier jedem Hause die Webstühle. Männer, Frauen, Jungen und Mädchen webten; die Kleinen und die ganz Alten spulten.
Nehmen wir von einem der mindestens 25 Plüschstühle einen Jahresdurchschnittsverdienst von 300 M., so macht das in 10 Jahren insgesamt 225.000 M. in einem Dörfchen von 150 Einwohnern!!
Und wo ist das viele Geld hingekommen?
Ja, wovon haben wir unsere stattlichen Hofreiten gebaut? Womit halben wir unsere prachtvollen Viehstände geschaffen? Wie kleiden und nähren wir uns jetzt? Ist nicht alles ganz anders und viel schöner und besser geworden?
Aber – „Sind wir auch zufriedener und Gott und denen, die uns zur sonnigen Höhe führten, dankbarer geworden?“ –
Wie nun alles auf dieser Erde dem Wechsel unterworfen ist, so ging auch die Plüschweberei dahin, doch andere gewerbliche Betriebe gingen in Nähe und Ferne auf: Basalt- und Kaliwerke, Holzbearbeitungsfabriken und dergleichen. Zu größeren Betrieben in weiterer Ferne führen Eisenbahnen, die unsere auswärts Geld verdienenden Väter, Söhne und Brüder wenigstens am lieben Sonntage in den Kreis ihrer Familien bringen. Was sollte uns heute in das nüchterne Amerika treiben? Wir bleiben im Lande und nähren uns redlich. Wir brauchen auch keine Zwirnsrollen mehr mit englischen Yards, Stahlfedern mit englischer Aufschrift, Schuster- und Schneiderwerke aus englischem Stahl, Bartmesser, gemacht in Britannia, Fahrräder, Näh- und Mähmaschinen, gebaut in Amerika. Nein, unser Geld bleibt in Deutschland. Wir können sogar andere Völler der Erde mit den Erzeugnissen unseres Erwerbslebens versorgen, und Deutschland und mitten darin die Rhön mit dem lieben kleinen Melpers hat Geld, viel Geld.

… (ab hier folgen die, der besonderen Zeit geschuldeten patriotischen Betrachtungen zum deutschen Anteil am Weltkrieg – die ich aus Gründen der Seelenhygiene weglasse)

,Wir wollen nicht zurück in die „gute alte Zeit“, aus der wir uns mit Gottes Hilfe aus ehrlichen Wegen unter Ausnutzung des von ihm verliehenen Pfundes emporrangen…  Was die neidischen Vettern jenseits des Meeres dazu sagen, drückt eine ihre führenden Zeitungen aus, indem sie schon 1897 schreibt: „Deutschlands Industrie und Anteil am Welthandel wachsen so, daß Englands Alleinherrschaft und Überseehandel in Gefahr gerät. Auf die Dauer können beide Welthandelsvölker nicht nebeneinander bestehen. Deutschland muß zerstört werden.“

Wir wollen nicht zurück in die „gute alte Zeit“ unter dem Aspekt dieses Zeitungsartikels betrachtet, ist also auch Drohung, die der erste Weltkrieg dann bittere Realität werden ließ.


(Von Lehrer Munk in Melpers, 1916)
Aus meiner vorigen Betrachtung mit gleicher Überschrift ersahen wir, daß es bei dem Übergang aus der früheren Zeit in die neue mit dem Erwerbsleben und der Lebenshaltung der Rhönbewohner in erfreulicher Weise vorwärts gegangen ist. – Heute wollen wir versuchen etwas tiefer zu schauen und uns beschäftigen mit dem Stand der unvergänglichen geistigen Güter am inwendigen Menschen.
Waren die Rhönbewohner der früheren Zeit bei äußerer Dürftigkeit an Gütern der zweiten Art vielleicht reicher als die Leute draußen im Lande?
Aus meiner Jugendzeit sind mir im Gedächtnis Worte eines Geistlichen geblieben, der aus dem reichen Ostthüringen, aus der „Schmergrube des Großherzogtumes“ in die verschrieene „Arme Rhön“, in „das Land der armen Leute“ kam. Ich meine den bekannten Heimatdichter W. Frenkel. Der begann einst seine Antrittspredigt als Superintendent von Dermbach mit den Worten:
„Riche Lüt – arme Lüt,
Arme Lüt – riche Lüt.“
Genügsamkeit, Biederkeit, treues Festhalten an Vätersitte und Väterglauben pries er als hervortretende Charakterzüge und als Reichtum des Rhöners. Manches mag – in einzelnen Orten mehr, in andern weniger – geblieben sein. Doch meine ich, würden wir uns täuschen, wenn wir nicht zugeben wollten, daß im großen und ganzen vieles anders und – nicht besser – geworden sei. Man hört die Klage von der Verrohung der Jugend. Unzweifelhaft sind die Erziehungsverhältnisse in vielen Familien durch unsere industrielle Entwicklung schwieriger geworden. Macht man sichs denn doch aber im allgemeinen nicht zu leicht und erwartet zu viel von einer Erkenntnis, die von selbst kommen soll? Zucht ist die unausgesetzte allseitige Einwirkung auf den sich entwickelnden Charakter. Sie war früher strenger vonseiten des Elternhauses sowohl als auch vonseiten des Auges der Erwachsenen in der Gemeinde überhaupt. Zucht und Sitte. Der und jener verschwundenen Unsitte wollen wir keine Träne nachweinen. Was sich aber an guter Sitte erhalten hat, wollen wir doch pflegen und stärken. Sitte und Sittlichkeit. Das Ziel der geistigen Menschwerdung ist der sittlich-religiöse Charakter. Wenn uns heutzutage religiöse Frömmelei als Heuchelei verhaßt ist, so müssen wir uns doch fragen, ab nicht in unserm religiösen Gemeinschaftsleben in Hinsicht auf Sonntagsfrieden, Sonntagsweihe, Kirchenbesuch und Abendmahlsgang, Gleichgiltigkeit und Trägheit eingerissen ist. Bei manchem mag es wohl nur Form gewesen sein. Wer sich mit Recht Christ nennt, dem müssen diese Formen Gefäß sein, die wir mit gutem Inhalt füllen wollen, namentlich im Hinblick auf unsere Jugend, statt sie mutwillig zertreten zulassen oder sie selbst leichtsinnig beiseite zu schieben. Ist die Rede der Alten von der „guten alten Zeit“ demgegenüber berechtigt?
Die neuere Zeit mit ihren leichten Verkehrsmöglichkeiten drängt auf Ausgleich mit der großen Welt, nicht nur in der äußeren Tracht, die bei uns sicherlich nicht schlechter war als die Pariser Mode.
Die ganze Betriebsweise, auch in der Landwirtschaft, ist anders geworden. Der Rhöner konnte nicht zurückbleiben. Also werden wir in allem modern, ganz modern?! Die Jugend merkt ja nichts, doch dem älteren Menschen drängt sich das Wort auf die Lippen: „Schade um manches achtlos verschleuderte edle Vätergut, für das wir auf andere Weise Ersatz suchen.“
Die Glocken der Heimat läuteten den Alten wie uns. Das Bächlein der Heimat fließt im ununterbrochenen Gleichmaß dahin gleich dem Strom der Ewigkeit. Hören wir in dieser ach so schweren Zeit sein Rauschen nicht lauter und eindringlicher als sonst? Was kündet das Klingen u. Rauschen?
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“
und
„Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“
Was drängte mich wohl zur Niederschrift vorstehender Betrachtungen in einer Zeit, da unsere Brüder, Väter und Söhne im Kampfe für die Heimat draußen stehen in Not und Tod? Wenn die Friedensglocken zu ihrer Heimkehr läuten, sollen sie einkehren in gesegneten Fluren, in friedevollen Häusern, zu Herzen, die nach Erfüllung der Hoffnung reich sind an Glauben und Liebe. Das sind wir ihnen schuldig. Dafür haben sie gestritten und gelitten.
Kommen dann Fremde zu uns, die die Rhön und den Rhöner schauen und kennen lernen, dann sollen sie mit Recht sagen können:
,,Riche Lüt – nur reiche Leute.“


Bücher und DVD über Geschichte, Landschaft und Kultur der Rhön und Thüringens
– nach Themen sortiert –


 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

12 − zwei =