Nationale Identität

Die Geschichte der Völker Europas ist nicht abgeschlossen – und wird es nie sein. Die Ethnogenese ist ebenso sehr ein Prozeß der Gegenwart und der Zukunft wie der Vergangenheit. Jeder Versuch von Romantikern, Politikern oder Sozialwissenschaftlern, die wahre Seele eines Volkes oder einer Nation ein für allemal zu »konservieren«, ist zum Scheitern verurteilt. Und nichts kann sicherstellen, daß Nationen, ethnische Gruppen und Gemeinwesen von heute in der Zukunft nicht vielleicht vollständig untergehen. Die Vergangenheit mag die Parameter gesetzt haben, innerhalb deren man die Zukunft gestalten kann, sie determiniert aber nicht, wie diese Zukunft aussehen wird. Ebenso wie die Völker Afrikas, Amerikas oder Asiens sind auch die Völker Europas keine atomaren Strukturen der Geschichte an sich, sondern Prozesse, die von der Geschichte geformt und umgeformt werden. Heraklit hatte recht: Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Jene Flüsse, die Völker sind, fließen weiter, aber die Gewässer der Vergangenheit sind nicht die der Gegenwart oder Zukunft. Europäer müssen den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart anerkennen, wenn sie eine Zukunft gestalten wollen.

Patrick J. Gary „Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen.

Klappentext:

Mit ihren vielen Sprachen, Traditionen, kulturellen und politischen Identitäten bildet die heutige Bevölkerung Europas das Ergebnis ausgedehnter Wanderungsbewegungen, die in der Antike einsetzten und im ersten nachchristlichen Jahrtausend mit den Wanderungen der Germanen einen Höhepunkt erreichten.
Geary beschreibt radikale Diskontinuitäten, fließende Übergänge und eine hohe Komplexität und Dynamik als charakteristische Merkmale der spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichte der europäischen Bevölkerung und zeigt, wie militärische und politische Eliten gern die Erinnerung an vergangene Namen und Ereignisse beschworen, um sie in den Dienst ihrer eigenen Machtinteressen zu stellen.
In Wirklichkeit sind weder die Völker Europas noch ihre mutmaßlichen Ansprüche auf Autonomie sonderlich alt. Der Verfasser analysiert die Souveränitätsansprüche, die heutzutage in Ost- und Mitteleuropa geltend gemacht werden, als Produkt des 19.Jahrhunderts, das die romantischen politischen Philosophien Hegels und Rousseaus mit einer »wissenschaftlichen« Geschichte und indogermanischen Philologie kombinierte.
Fazit: Sowenig die Franken Chlodwigs die Franken Karls d. Gr. sind, sowenig sind die Serben der Schlacht bei Kosovo (1389) die Serben von Milosevic.

 

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