Was ist Wahrheit? – Zitate

Wahrheit ist lichtende Verbergung!

Peter_Schubert-Flamme_1984

Peter Schubert, Flamme, 1984
aus der Ausstellung – Lichtung und Verbergung
vom 13.02.2011 – 24.04.2011 in
Kommunale Galerie Berlin

 

Den Titel dieses Beitrages habe ich bei Heidegger gefunden und zwar in seinen Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) – dem Band 65 der Heidegger-Gesamtausgabe. Seine seltsame Sprache ist aus der Not geboren, weil Begriffe der Umgangssprache vieldeutig sind und somit das, was er ausdrücken will, nicht auf seine Weise verstanden werden könnte. Das hat freilich den Nachteil, dass derjenige, der mit seinem Sprachgebrauch nicht vertraut ist, ihn nun gar nicht mehr versteht. Darum habe ich das, wie er den Begriff „Wahrheit“ deutet, an das Ende des Beitrages verbannt.


Die Wahrheit ist da, da oder dada


 

Ich beginne mit dem Zitieren einiger tiefsinnigen Belanglosigkeiten über den Begriff „Wahrheit“. Im Verlauf des Beitrages werden Philosophen, Dichter und ein Mathematiker dafür sorgen, dass der werte Leser am Ende den Begriff der Wahrheit zu hassen beginnt. Ist in ihm dann endlich dieser Zustand gereift, wird Martin Heidegger meinem gemeinen Verwirrspiel die Krone aufsetzen…^^

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In Wirklichkeit hieß sie aber Ermelinda Tuzzi und in Wahrheit sogar nur Hermine.

Robert Musil
„Der Mann ohne Eigenschaften“


 
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Wahrheit ist ein ganz alltäglicher Begriff. Verbrechen und Heldentaten wurden im Namen der Wahrheit begangen, sie verursacht Tragödien und Happy Ends und sie blickt auf eine lange und wechselhafte Geschichte zurück. Mit einem Wort, sie ist ganz alltäglich und gleicht vielen anderen menschlichen Unternehmungen.

Christian Bensel
Wahrheit und Wandell
Alltägliche Wahrheitsstrategien und Argumentationen in apologetischen Texten

 


Frank Goyke und Andreas Schmidt in „Sebastian Bleisch – Der Oscar Wilde von Schwerin„:

Wahrheit, so sind wir mittlerweile überzeugt, existiert nur in dem Augenblick, da etwas geschieht. Schon wenige Minuten später ist der Augenblick Erinnerung, wird er den eigenen Interessen angepasst, verklärt, je nach Persönlichkeit auf- oder abgewertet, gewertet in jedem Fall.


Was ist Wahrheit? In Fragen der Religion einfach die Anschauung, die überlebt hat.

Oscar Wilde

 


 

 
 

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»Wahrheit ist nur die Anthropologie, Wahrheit nur der Standpunkt der Sinnlichkeit, der Anschauung«

Ludwig Feuerbach
Ausgew. Schriften I

 


 

 
 

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Die Wahrheit ist das, was jeder Mensch zum Leben braucht und doch von niemand bekommen oder erstehen kann. Jeder Mensch muß sie aus dem eigenen Innern immer wieder produzieren, sonst vergeht er. Leben ohne Wahrheit ist unmöglich. Die Wahrheit ist vielleicht das Leben selbst.

Franz Kafka
in
GUSTAV JANOUCH
Gespräche mit Kafka
Aufzeichnungen und Erinnerungen

 


 

 
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Ein Fehler, den wir machen – ein Irrtum – besteht in der Wissenschaft im wesentlichen darin, daß wir eine Theorie für wahr halten, die nicht wahr ist. (Viel seltener besteht er darin, daß wir eine Theorie für falsch halten, obwohl sie wahr ist.) Den Fehler, den Irrtum bekämpfen heißt also, nach objektiver Wahrheit suchen und alles zu tun, um Unwahrheiten zu entdecken und auszuschließen. Das ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Tätigkeit. Man kann also sagen: Unser Ziel als Wissenschaftler ist die objektive Wahrheit; mehr Wahrheit, interessantere Wahrheit, besser verständliche Wahrheit. Gewißheit kann unser Ziel vernünftigerweise nicht sein. Wenn wir einsehen, daß die menschliche Erkenntnis fehlbar ist, dann sehen wir auch ein, daß wir nie ganz sicher sein können, ob wir nicht einen Fehler gemacht haben. Man könnte das auch so formulieren:
Es gibt ungewisse Wahrheiten – sogar wahre Sätze, die wir für falsch halten – aber keine ungewissen Gewißheiten.
Da wir nie ganz sicher wissen können, so steht es eben nicht dafür, nach Gewißheit zu suchen; aber es steht sehr dafür, nach Wahrheit zu suchen; und das tun wir hauptsächlich dadurch, daß wir nach Fehlern suchen, um sie zu korrigieren.
Die wissenschaftliche Erkenntnis, das wissenschaftliche Wissen ist also immer hypothetisch: Es ist Vermutungswissen. Und die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die kritische Methode: die Methode der Fehlersuche und der Fehlerelimination im Dienste der Wahrheitssuche, im Dienste der Wahrheit.
Selbstverständlich wird mir jemand »die alte und berühmte Frage«, wie sie Kant nennt, stellen: »Was ist Wahrheit?« Kant weigert sich in seinem Hauptwerk (884 Seiten), auf diese Frage mehr zu antworten, als daß Wahrheit »die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande« ist (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. S. 82, 83). Ich würde ganz ähnlich sagen: Eine Theorie oder ein Satz ist wahr, wenn der von der Theorie beschriebene Sachverhalt mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und ich möchte dazu noch drei Bemerkungen hinzufügen:
  1. Jede unzweideutig formulierte Aussage ist entweder wahr oder falsch; und wenn sie falsch ist, dann ist ihre Negation wahr.
  2. Es gibt also ebenso viel wahre wie falsche Aussagen.
  3. Jede solche unzweideutige Aussage (auch wenn wir nicht mit Sicherheit wissen, ob sie wahr ist) ist entweder wahr, oder ihre Negation ist wahr. Auch daraus folgt, daß es verkehrt ist, die Wahrheit mit der sicheren oder gewissen Wahrheit gleichzusetzen. Wahrheit und Gewißheit müssen scharf unterschieden werden.
Wenn Sie als Zeuge vor Gericht gerufen werden, so werden Sie aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Und es wird, mit Recht, angenommen, daß Sie diese Aufforderung verstehen: Ihre Aussage soll mit den Tatsachen übereinstimmen; nicht von Ihren subjektiven Überzeugungen beeinflußt (oder von denen anderer Menschen). Wenn Ihre Aussage nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, dann haben Sie entweder gelogen oder einen Fehler gemacht. Aber nur ein Philosoph – ein sogenannter Relativist – wird Ihnen zustimmen, wenn Sie sagen: »Nein; meine Aussage ist wahr, denn ich meine eben mit Wahrheit etwas anderes als Übereinstimmung mit den Tatsachen. Ich meine, nach dem Vorschlag des großen amerikanischen Philosophen William James, Nützlichkeit; oder ich sage, nach dem Vorschlag vieler deutscher und amerikanischer Sozialphilosophen: Wahrheit ist, was die Gesellschaft, oder die Majorität, oder meine Interessengruppe, oder vielleicht das Fernsehen akzeptiert oder propagiert.«
Der philosophische Relativismus, der sich hinter der »alten und berühmten Frage ›Was ist Wahrheit?‹« verbirgt, öffnet der lügnerischen Verhetzung der Menschen Tür und Tor. Das haben wohl die meisten derer, die den Relativismus vertreten, nicht gesehen. Aber sie hätten es sehen sollen und können. Bertrand Russell hat es gesehen, und ebenso Julien Benda, der Autor des Werkes »Der Verrat der Intellektuellen« (La trahison des clerks).
Der Relativismus ist eines der vielen Verbrechen der Intellektuellen. Er ist ein Verrat an der Vernunft, und an der Menschheit. Ich vermute, daß der Wahrheitsrelativismus gewisser Philosophen eine Folge der Vermengung der Ideen der Wahrheit und der Gewißheit ist; denn mit der Gewißheit steht es in der Tat so, daß man sagen kann, daß es Grade von Gewißheit gibt; also mehr oder weniger Sicherheit. Die Gewißheit ist auch in dem Sinn relativ, daß es bei der Gewißheit immer darauf ankommt, was auf dem Spiel steht. Ich vermute also, daß hier eine Verwechslung zwischen Wahrheit und Gewißheit stattfindet; und in manchen Fällen läßt sich das auch nachweisen.
Das ist alles von großer Bedeutung für die Rechtslehre und die Rechtspraxis. Die Formel »im Zweifelsfall für den Angeklagten« und die Idee des Geschworenengerichts zeigt das. Was die Geschworenen zu tun haben, das ist, zu beurteilen, ob der Fall, dem sie gegenüberstehen, noch ein Zweifelsfall ist oder nicht. Wer je ein Geschworener war, wird verstehen, daß die Wahrheit etwas Objektives ist, die Gewißheit etwas Subjektives. Das kommt in der Situation des Geschworenengerichts am allerdeutlichsten zum Ausdruck.
Wenn die Geschworenen zu einer Übereinstimmung kommen – zu einer »Konvention« – so nennt man das den »Wahrspruch«. Die Konvention ist weit entfernt davon, willkürlich zu sein. Es ist die Pflicht jedes Geschworenen, zu versuchen, die objektive Wahrheit zu finden, nach bestem Wissen und Gewissen. Aber gleichzeitig soll er sich seiner Fehlbarkeit bewußt sein, seiner Ungewißheit. Und im Falle eines vernünftigen Zweifels an der Wahrheitsfindung soll er für den Angeklagten stimmen.
Die Aufgabe ist schwierig und verantwortungsvoll; und man sieht hier deutlich, daß der Übergang von der Wahrheitssuche zum sprachlich formulierten Wahrspruch Sache eines Beschlusses ist, einer Entscheidung. Und so ist es auch in der Wissenschaft.
Alles das, was ich bisher gesagt habe, wird mir zweifellos wieder einmal die Bezeichnung »Positivist« und »Szientist« einbringen. Es macht mir nichts, auch dann nicht, wenn diese Ausdrücke als Schimpfwörter verwendet werden. Aber es macht mir schon etwas, daß die, die sie verwenden, entweder nicht wissen, wovon sie reden, oder die Tatsachen verdrehen.
Trotz meiner Verehrung der Wissenschaft bin ich kein Szientist. Denn ein Szientist glaubt dogmatisch an die Autorität der Wissenschaft; während ich an keine Autorität glaube und den Dogmatismus immer bekämpft habe und noch überall bekämpfe, vor allem in der Wissenschaft. Ich bin gegen die These, daß der Wissenschaftler an seine Theorie glauben muß. Was mich betrifft, »I do not believe in belief« (Ich glaube nicht an den Glauben), wie E. M. Forster sagt; und insbesondere nicht in der Wissenschaft. Ich glaube höchstens an den Glauben in der Ethik, und auch hier nur in wenigen Fällen. Ich glaube zum Beispiel daran, daß die objektive Wahrheit ein Wert ist; also ein ethischer Wert, vielleicht sogar der größte Wert; und daran, daß die Grausamkeit der größte Unwert ist.
Und ich bin auch deshalb kein Positivist, weil ich es für moralisch falsch halte, nicht an die Wirklichkeit und an die unendliche Wichtigkeit des menschlichen und tierischen Leidens zu glauben und an die Wirklichkeit und Wichtigkeit der menschlichen Hoffnung und der menschlichen Güte.
Eine andere Anklage, die häufig gemacht wird, muß anders beantwortet werden. Es ist die Anklage, daß ich ein Skeptiker bin und mir daher selbst widerspreche oder Unsinn rede (gemäß Wittgensteins Tractatus 6.51).
Nun ist es richtig, daß ich insofern als Skeptiker (im klassischen Sinn) bezeichnet werden kann, als ich die Möglichkeit eines allgemeinen Kriteriums der (nicht logisch-tautologischen) Wahrheit leugne. Aber das tut jeder vernünftige Denker, zum Beispiel Kant oder Wittgenstein oder Tarski. Und wie diese akzeptiere ich die klassische Logik (die ich als Organon der Kritik interpretiere; also nicht als Organon des Beweises, sondern als Organon der Widerlegung, des Elenchos). Aber ich unterscheide mich grundlegend von dem, was man heutzutage gewöhnlich einen Skeptiker nennt. Als Philosoph bin ich an Zweifel und Unsicherheit nicht interessiert, und zwar deshalb, weil das subjektive Zustände sind und weil ich die Suche nach subjektiver Sicherheit längst als überflüssig aufgegeben habe. Was mich interessiert, sind die objektiven kritischen Vernunftgründe, die dafür sprechen, daß eine Theorie einer anderen in der Suche nach der Wahrheit vorzuziehen ist. Und etwas Ähnliches hat sicher vor mir noch kein moderner Skeptiker gesagt.
Damit schließe ich für den Augenblick meine Bemerkungen zum Thema »Erkenntnis«; und ich komme jetzt als nächstes zum Thema »Wirklichkeit«, um dann am Schluß über die »Gestaltung der Wirklichkeit durch die Erkenntnis« zu sprechen.
Karl R. Popper
Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit:
Die Suche nach einer besseren Welt
 

 
 

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Das menschliche Bewusstsein wurde nicht durch die drängende Frage ausgeformt: »Was ist Wahrheit?« Wichtiger war sicher die Frage: Was ist für mein Überleben und Fortkommen das Beste? Was dazu nichts beitrug, hatte wahrscheinlich eher wenige Chancen, in der Evolution des Menschen eine bedeutende Rolle zu spielen. Nietzsche hatte zwar die vage Hoffnung, dass vielleicht gerade diese Selbsterkenntnis den Menschen schlauer und möglicherweise zu einem »Übermenschen« machen könnte, der tatsächlich seinen Erkenntnissinn vergrößert. Aber auch hier ist Vorsicht sicher das bessere Rezept als Pathos. Denn auch alle Einsicht in das menschliche Bewusstsein und seine »Chemie«, die, wie wir noch sehen werden, seit Nietzsches Tagen enorme Fortschritte gemacht hat, selbst die ausgeklügeltsten Messapparaturen und sensibelsten Beobachtungen ändern nichts an der Tatsache, dass dem Menschen eine schlechthin objektive Erkenntnis verwehrt bleibt. Aber ist das eigentlich so schlimm? Wäre es nicht vielleicht viel schlimmer, wenn der Mensch alles über sich selbst wüsste? Brauchen wir eine Wahrheit, die frei und unabhängig über unseren Häuptern schwebt, überhaupt? Manchmal ist der Weg auch ein schönes Ziel, vor allem wenn es ein so spannender Pfad ist wie die verschlungenen Wege, die zu uns selbst führen. »Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir uns eines Tages fänden?«, hatte Nietzsche in der Genealogie der Moral gefragt. Versuchen wir also, uns so weit, wie es uns gegenwärtig möglich ist, zu finden. Welchen Weg sollen wir nehmen? Welche Methode anwenden? Und wie könnte das aussehen, was man am Ende findet? Wenn all unsere Erkenntnis von unserem Wirbeltiergehirn abhängt und sich darin abspielt, fangen wir doch am besten bei diesem Gehirn an. Und die erste Frage lautet: Wo kommt es her? Und warum ist es so beschaffen, wie es ist?

Richard David Precht
Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Eine philosophische Reise

 


 

 
 

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Was ist Wahrheit? Die verschiedenen philosophischen Theorien haben auf diese Fragen ganz unterschiedliche Antworten gegeben, die einmal die eine, dann die andere Seite der Unterscheidungen in den Vordergrund gerückt haben. Entsprechend kann man dann Realisten von Idealisten, Positivisten von Konstruktivisten, Relativisten von Pragmatisten usw. unterscheiden. Allen gemeinsam ist jedoch, dass ihre Probleme nur darum für sie bestehen, weil sie ihre dualistischen Voraussetzungen, die keineswegs selbstverständlich sind, ohne Begründung nicht thematisieren.

Der Abschied von der Wahrheit
Siegfried J. Schmidt über Josef Mitterers Das Jenseits der Philosophie
in
Bernhard Pörksen (Hrsg.)
Schlüsselwerke des Konstruktivismus

 


 

 
 

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»Was ist Wahrheit?« – die Frage des Pontius Pilatus ist zugleich jene Frage, mit der man bei einem, wenn nicht dem philosophischen Zentralproblem angelangt ist. Üblicherweise gilt eine Meinung, eine Behauptung als »wahr«, wenn der von ihr unterstellte Sachverhalt zutrifft und wenn die behauptende Person über gute Gründe, über Argumente verfügt, die aufgestellte Behauptung zu untermauern. Traditionellerweise stehen die Begriffe der Wahrheit und der Vernunft in einem engen, wenngleich nicht immer restlos geklärten Verhältnis zueinander. So scheint »Vernunft« einerseits der Inbegriff alles »Wahren« zu sein, während umgekehrt »Wahrheit« dasjenige ist, was durch korrekten Gebrauch der Vernunft erreicht werden kann. Die wissenschaftstheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte haben sich z.B. in unterschiedlicher Weise mit dem Begriff der Tatsachenwahrheit auseinandergesetzt und im Zuge der Diskussion um das sogenannte »semantische Wahrheitskriterium« zeigen können, dass z.B. der Satz »Die Rose ist rot« dann und genau dann wahr ist, wenn die Rose rot ist. Diese nur auf den ersten Blick tautologische Bestimmung stellt eine Präzisierung der sogenannten – vor allem im Mittelalter aufgestellten – Adäquationsbegriffs der Wahrheit dar, gemäß dessen es eine innere Übereinstimmung zwischen menschlichen Gedanken und Behauptungen hier sowie von Zuständen in der Welt dort gibt. Freilich ist die Frage nach der Definition von Wahrheit im Sinne sachlich zutreffender Behauptungen von der Frage nach der Ermittlung dieses Zutreffens unterschieden: Komplexe physikalische Behauptungen über Prozesse im Mikrobereich erfordern andere Beobachtungsmethoden als Behauptungen im Mesobereich, z.B. »Die Tür ist offen«. Probleme ganz eigener Art wirft dann die Frage auf, ob und in welchem Sinn man jenseits der Sphäre möglicher Tatsachenbehauptungen von Wahrheit sprechen kann: Lassen sich moralische Prinzipien oder Behauptungen über die Ausdruckswerte von Kunstwerken im gleichen Sinn als »wahr« bezeichnen und durch intersubjektiv anerkannte Verfahren in ihren Geltungsansprüchen begründen?1 Noch problematischer ist die beanspruchte Wahrheit von Glaubensaussagen – welchen Wahrheitsbegriff unterstellen sie und welches sind die Verfahren, dieser Wahrheit inne zu werden, d.h. die Wahrheit ihrer Behauptungen auszuweisen? In theologischen Diskursen wird gegenwärtig ein existenzial-hermeneutischer Wahrheitsbegriff bemüht, der von der klassischen Adäquationstheorie mindestens ebenso weit entfernt ist wie von sprachanalytisch reformulierten Konsenstheorien. Das zeigt etwa als aktuelles Beispiel aus dem Jahr 2003 eine Handreichung der theologischen Kammer der EKD unter dem nicht unproblematischen Titel »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen«, sogenannte theologische »Leitlinien«, die es gläubigen evangelischen Christen besser ermöglichen sollten, mit Angehörigen anderer Religionen in Kontakt zu treten. Dort heißt es in Abschnitt 3.2 »Die Religionen und die Wahrheit«:

»Wahrheit ist im Verständnis des christlichen Glaubens nicht zuerst eine in Sätzen formulierte Richtigkeit. Wahrheit ist ein Ereignis, in dem das geschieht, worauf man sich schlechterdings verlassen kann. Nach christlichem Verständnis ereignet sich die Wahrheit in der Offenbarung des lebendigen, von der Sünde errettenden Gottes in Jesus Christus, der durch das Wirken des Heiligen Geistes den freimachenden Glauben schafft: Die Wahrheit rettet und heilt. Diese Wahrheit bezeugt die christliche Kirche, auch wenn sie sich auf andere Religionen bezieht. Für sie treten Christen ein, wenn sie Menschen anderer Religionen begegnen. Würden die Kirche und die Christen darauf verzichten, dann hätten sie im Grunde aufgehört, Kirche oder Christen zu sein. Denn das Zeugnis von dieser Wahrheit gehört unabdingbar zum christlichen Glauben selbst. Nur durch das Zeugnis des Glaubens kann die Christusgeschichte in der Welt bekannt gemacht werden. Nur durch das Zeugnis des Glaubens vergegenwärtigt sich die rettende Wahrheit so, dass Glaube aufs Neue entsteht«.

Das Bekenntnis der theologischen Kammer der EKD, nicht der in Anspruch genommene existenzial-hermeneutische Wahrheitsbegriff, ist übrigens im Kern strukturidentisch mit zentralen Aussagen des islamischen Glaubens, z.B. gemäß Sure 9,33 des Korans, in der es heißt:

»Er, Gott ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtsleitung und der Religion der Wahrheit gesandt hat, um ihr die Oberhand zu verleihen über alle Religion, auch wenn es den Polytheisten zuwider ist«.

Diese Glaubensaussage ist zugleich mit einem politischen Herrschaftsauftrag verbunden. Nimmt man freilich – wenn ich das recht sehe – die koranischen Schriften im Ganzen, so lässt sich daraus gleichwohl kein absoluter Missionsbefehl ableiten, denn:

»Wenn dein Herr wollte«, so Sure 10,99, »würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der die Menschen zwingen kann, gläubig zu werden«.

Micha Brumlik
Jugend, Religion und Islam – einige grundsätzliche Erwägungen
in
Christine Hunner-Kreisel · Sabine Andresen (Hrsg.)
Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten

 


 

 
 

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Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten. Behauptungen gehören zur Klasse konstativer Sprechakte. Indem ich etwas behaupte, erhebe ich den Anspruch, daß die Aussage, die ich behaupte, wahr ist. Diesen Anspruch kann ich zu Recht oder zu Unrecht erheben. Behauptungen können weder wahr noch falsch sein, sie sind berechtigt oder unberechtigt. Im Vollzug der konstatierenden Sprechakte zeigt sich, was wir mit der Wahrheit von Aussagen meinen; darum können diese Sprechakte nicht selbst wahr sein. Wahrheit meint hier den Sinn der Verwendung von Aussagen in Behauptungen. Der Sinn von Wahrheit läßt sich daher mit Bezugnahme auf die Pragmatik einer bestimmten Klasse von Sprechakten klären. (Habermas 1973, 212) Wahrheit nennen wir den Geltungsanspruch, den wir mit konstativen Sprechakten verbinden. Eine Aussage ist wahr, wenn der Geltungsanspruch der Sprechakte, mit denen wir, unter Verwendung von Sätzen, jene Aussagen behaupten, berechtigt ist. (Habermas 1973, 218)

Christian Bensel
Wahrheit und Wandel
Alltägliche Wahrheitsstrategien und Argumentationen in apologetischen Texten

 


 

 
 

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Wahrheit und Falschheit Die deskriptiven Urteile haben eine besondere Eigenschaft, denn sie sind als überprüfbare Beschreibungen von bestimmten Sachverhalten entweder wahr oder falsch. Aber was ist Wahrheit, oder was ist Falschheit? Bei dieser Frage stoßen wir sofort auf ein schwieriges philosophisches Problem, das hier gar nicht erschöpfend behandelt werden kann. Jedoch ist es als Grundlage des Philosophierens wichtig, die Begriffe wahr und falsch zunächst einmal in der traditionellen Weise zu verstehen, weil damit unser Einstieg in die philosophische Fachsprache erleichtert wird. Später muss der Begriff der Wahrheit dann noch tiefer diskutiert werden. Die traditionelle Definition von Wahrheit geht auf Aristoteles zurück, aber Thomas von Aquin formulierte sie so, wie sie heute auch noch vielfach verwendet wird: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Gedanke und Sache. Veritas est adaequatio intellectus et rei. [Thomas von Aquin (1225-1274)]

Das Wort Wahrheit bezeichnet demnach eine besondere Beziehung zwischen unseren Gedanken über die Dinge der Welt und den Dingen selbst. Ein Gedanke wird genau dann als wahr verstanden, wenn er sich mit der Sache, die ihm entspricht, in Übereinstimmung befindet. Anderenfalls nennen wir den Gedanken falsch. Ein Beispiel möge dies veranschaulichen: Der Gedanke: „Wasser gefriert bei 0 °C“ ist genau dann wahr, wenn es in der Tat so ist, dass Wasser bei 0 °C gefriert. Das Urteil „Wasser gefriert bei 0 °C“ ist dann wahr. Diese traditionelle Bestimmung des Wahrheitsbegriffs ist aber nicht unproblematisch; denn es entsteht ja sofort die Frage, wie man denn überhaupt feststellen kann, ob eine Gedanke mit der ihr entsprechenden Sache übereinstimmt oder nicht. Bei einfachen Beispielen wie das oben erwähnte genügt ein praktischer Nachweis, aber bei komplizierteren Urteilen ist der Nachweis schon deshalb problematisch, weil auch bei jedem Nachweis die Frage gestellt werden kann, ob er selbst wahr ist, so dass ein Nachweis für den Nachweis erbracht werden müsste und so fort. Es ist also schwierig anzugeben, worin eigentlich das Entscheidungskriterium für Wahrheit oder Falschheit besteht. Dies ist jedoch einer späteren Erörterung vorbehalten.

Reiner Winter
Grundbegriffe der Philosophie



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Was ist Wahrheit?

»Was dunkel ist, ist hell, was trüb ist, das ist klar, was langsam ist, ist schnell doch was wahr ist, das ist wahr.« (James Thurber)

Nicht nur Richter, sondern auch Philosophen sind daran interessiert, was denn die Wahrheit sei. Letztere beschäftigen sich dann auch noch damit, ob es so etwas wie Wahrheit überhaupt gibt. Ist es nicht etwas albern, sich darüber zu streiten, ob es »Wahrheit« gibt? Vielleicht ist es mehr oder weniger schwer, herauszufinden, was die Wahrheit ist, doch »im Prinzip« muss etwas wahr sein, oder eben nicht. Man weiß es im Einzelfall vielleicht nicht und wird es vielleicht auch nie wissen – aber etwas kann ja nicht wahr und falsch zugleich sein. Oder? Bestimmt sind Ihnen sogleich Beispiele für Aussagen eingefallen, bei denen es fraglich erscheint, ob entscheidbar ist, ob sie wahr oder falsch sind. »Rot ist eine schöne Farbe« – wahr oder falsch? »Wenn Pferde fliegen könnten, hätte sich die Luftfahrt nicht entwickelt« – wahr oder falsch? »Dieser Satz ist falsch« – wahr oder falsch? »Ein Tannenzapfen, der im Wald zu Boden fällt, erzeugt ein Geräusch, auch wenn es niemand hört« – wahr oder falsch? Das sind bereits einige ganz unterschiedliche Beispiele, die zeigen, dass es mit der Wahrheit so leicht nicht ist. Wie ist es denn mit Aussagen wie »rot ist schön«? Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es. (Ist das wahr? Mitunter scheint es, als ob man sich darüber am allerbesten streiten kann …) Kann man also für Empfindungen kein Wahr oder Falsch angeben? Sind solche Aussagen prinzipiell unentscheidbar? Zumindest gibt es die Worte »schön« und »hässlich«, die sich auf etwas beziehen. Der Sprachgebrauch ist natürlich flexibel, aber nur innerhalb gewisser Grenzen. Wenn ich beispielsweise das Wort »Auto« verwende, um das zu bezeichnen, was andere Menschen einen »Bleistift« nennen, werde ich Probleme bekommen. Wenn ich ein solches Schreibgerät in die Hand nehme und behaupte, das sei ein Auto, wäre diese Aussage in den Augen aller anderen Menschen schlicht und einfach falsch. Um nun auf die Wahr- oder Falschheit der Aussage »rot ist schön« zurückzukommen: Man befragt eine repräsentative Stichprobe von Menschen, ob sie rot schön finden; falls sich die Mehrheit dafür ausspricht, ist rot schön und die Aussage wahr. Höchstwahrscheinlich sind Sie von dieser Methode der Wahrheitsfindung nicht gerade begeistert. Irgendwie widerspricht sie dem, was man als das Wesen der Wahrheit ansieht. Etwas, das wahr ist, sollte ja für alle Menschen und nicht nur für einige wahr sein. Wahrheit ist unabhängig von Zustimmung, etwas kann wahr sein, auch wenn es niemand erkennt. Das mit der Wahrheit ist also esoterischer, als man vielleicht auf den ersten Blick annehmen mag. Betrachten wir uns noch kurz die anderen Beispiele, bei denen der Wahrheitsbegriff problematisch ist. »Wenn Pferde fliegen könnten, hätte sich die Luftfahrt nicht entwickelt.« Diese Aussage klingt in gewisser Weise, wenn auch nicht sonderlich realistisch, so doch folgerichtig. Aber ist sie wahr? Wir können uns sicherlich darauf einigen, dass es nicht wahr ist, dass Pferde Flügel haben (zumindest heute, in der griechischen Mythologie gibt es da andere Ansichten). Aber das ist ja nicht die Aussage; es ist nichts darüber gesagt, ob Pferde Flügel haben, sondern nur etwas über die Konsequenzen, wenn sie Flügel hätten (was ja, wie gesagt, nicht der Fall ist). Logisch gesehen ist eine »wenn«-Aussage, bei der das erste Element kontrafaktisch ist, immer richtig.

Das klingt auf den ersten Blick (Ohrenblick) merkwürdig. Wie ist es beispielsweise mit dem Satz: »Wenn ich ein Elefant wäre, könnte ich fliegen.« Nun, ich bin – soweit ich weiß – kein Elefant. Und fliegen kann ich auch nicht. Die Aussage ist also durchaus konsistent. Das Problem besteht darin, dass wir auf das Wort »wenn« mit einem inneren Bild reagieren, das wir dann vorläufig als eine Art alternative Realität betrachten: Und in dieser Alternativrealität fliegen Elefanten ebenfalls nicht. Aber »Wenn ich ein Elefant wäre …« – wäre ich dann noch ich? Kontrafaktische wenn-Aussagen sind also immer logisch wahr. Sie haben auch immer dieselbe Aussage: Angenommen, das Unmögliche ist möglich, ist auch ein beliebiges Anderes möglich. Eine der interessantesten Variationen von Sätzen, bei denen das Problem der Wahrheit auftaucht, ist die Gruppe der selbstbezüglichen Sätze, wie z.B. »Dieser Satz ist falsch.« Nun, Sie kennen wahrscheinlich einige »Paradoxa«, die in dieser Art und Weise aufgebaut sind. Ist der Satz nun wahr? Wenn er wahr wäre, wäre er laut seiner Aussage (die ja wahr sein soll) falsch. Dann ist er also falsch? Nein, denn wäre er falsch, wäre die Aussage: Es ist falsch, dass dieser Satz falsch ist. Er ist also wahr. Und so weiter …

Das wirklich Interessante an solchen Sätzen ist, dass man schnell sieht: Es ist nicht nur praktisch unmöglich zu sagen, ob der Satz wahr oder falsch ist, sondern es ist prinzipiell unmöglich. Man kann die Sache auch noch weitertreiben und beispielsweise einen Satz konstruieren, den ein bestimmter Mensch für falsch halten muss, während ihn alle anderen für wahr halten. Können Sie sich das vorstellen? Nun, hier ist so ein Satz: »Fritz kann diesen Satz nicht widerspruchsfrei für wahr halten.« Würde Fritz den Satz für wahr halten, träte ein Widerspruch auf: Dann hielte er es nämlich für wahr, dass er diesen Satz nicht für wahr halten kann. Meint er dagegen, der Satz sei falsch, so ergibt sich kein Widerspruch. So weit, so gut; dann ist der Satz eben falsch. Falsch! Denn jeder andere (nur Fritz nicht, wie der Satz ausdrücklich betont) kann den Satz für wahr halten, ohne sich in Widersprüche zu verheddern. Die letzte Aussage: »Ein Tannenzapfen, der im Wald zu Boden fällt, erzeugt ein Geräusch, auch wenn es niemand hört«, werden wohl die meisten Menschen für wahr halten. Aber warum eigentlich? Es ist ja in diesem Fall nicht nur praktisch unmöglich, die Wahrheit festzustellen, sondern prinzipiell: Der Satz schließt die Möglichkeit ja per definitionem aus; dass niemand es hört, ist ja die Bedingung – ziemlich unfair von dem Satz. Auf dieser Ebene erweist sich der Satz natürlich als ziemlich plumper Trick, geheimnisvoll zu klingen. Aber es steckt mehr dahinter, nämlich die Frage danach, ob etwas wahr sein kann, ohne dass jemand darum weiß. Ist Wahrheit eine Eigenschaft der Dinge? All das scheint für das alltägliche Leben nicht sonderlich bedeutsam zu sein. Deshalb zum Schluss unserer Überlegungen zur Wahrheit noch ein lebensnahes Beispiel. Herr Maier bespricht nach Geschäftsschluss mit seiner Kollegin Frau Müller noch einige geschäftliche Angelegenheiten in einer netten Bar. Beide trinken ein wenig zu viel, und es wird ziemlich spät. Beschwipst wanken beide zu Frau Müllers Wohnung, die gleich um die Ecke liegt. Frau Müller begibt sich in ihr Bett, Herr Maier macht sich’s auf der Couch bequem. Am nächsten Morgen – es ist Samstag – eilt Herr Maier, nunmehr nüchtern, nach Hause, wo ihn seine Frau erwartet, mit den Worten: »Sag mir nur, ob du bei einer anderen Frau warst – Ja oder nein?« Auf den ersten Blick scheint es einfach festzustellen, welche Antwort die Wahrheit wäre. Ja – denn er war ja bei einer anderen Frau, Frau Müller nämlich. Das ist die Wahrheit, die Herr Maier kennt. Doch, was geschieht, wenn er »Ja« sagt? Was ist Frau Maiers Wahrheit? Ja, er war bei einer anderen Frau, heißt ja nicht nur – für Frau Maier –, dass er anwesend, sondern auch, dass er intim mit der Dame war. »Ja« bedeutet also (für Frau Maier), dass Herr Maier ihr untreu war – was ja nun nicht der Wahrheit entspricht. Sagt er hingegen: »Nein«, so ist das zwar nicht in seinem Erleben die Wahrheit, dafür aber ist die Vorstellung, die das »Nein« bei seiner Frau auslöst, näher an dem, was wirklich geschehen ist. Es ist wie bei Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen: Wenn der andere meine Sprache nicht versteht, muss ich seine Sprache sprechen, wenn ich ihm etwas sagen will. Zum Beispiel muss ich, wenn ich einem Japaner sagen will, dass ich nie rauche, sagen, dass ich ima (jap. nie) rauche … So haben wir also – wie Sokrates und seine Opfer – die Wahrheit nicht gefunden. Oder wie der Dichter Xenophanes bereits hundert Jahre vor Sokrates schrieb: »Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner kennen über die Götter und all jene Dinge, von denen ich spreche. Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden – wissen könnte er’s nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung.«

Aljoscha A. Schwarz Ronald P. Schweppe
Anleitung zum Philosophieren
Selber denken leicht gemacht

 


 

 

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Was ist Wahrheit? Wenn wir von religiösen Bedeutungen von Wahrheit absehen, so bedeutet Wahrheit in der Regel etwas, das unter allen Umständen richtig ist. Die Frage ist, ob es so etwas geben kann. Um Aussagen wie »die Wahrheit Gottes«, die »Wahrheit der Ideen«, der »wahre Mensch« zu vermeiden, welche die Philosophiegeschichte verunsichert haben, hat man sich in der modernen Philosophie im Anschluß an Tarski darauf geeinigt, daß überhaupt nur Behauptungen über Sachverhalte wahr (oder falsch) sein können, niemals aber Dinge oder Prozesse. Danach ist ein Satz genau dann wahr, wenn der Sachverhalt besteht, den er behauptet (Tarski, 1956). Der Satz »Es regnet draußen« ist dann wahr, wenn es tatsächlich draußen regnet. Wahrheit bemißt sich also danach, ob es möglich ist, festzustellen, ob der behauptete Sachverhalt tatsächlich vorliegt oder nicht. Dies ist an Beobachtungen gebunden, und alles, was wir soeben über den Aussagewert von Beobachtungen gesagt haben, gilt natürlich auch in diesem Zusammenhang. Danach kann es keine objektiven Wahrheiten geben. Diese Einsicht mag in vielen Fällen schwer akzeptierbar sein. Wenn ich nach draußen blicke und sehe es in Strömen regnen, so mag ich mich ja noch irren. Sehe ich aber gleichzeitig Menschen mit Regenschirmen auf der Straße, dann werde ich weniger zweifeln. Ich kann andere Personen befragen und schließlich selber vor die Tür treten und hinausgehen. Wenn alle Personen mir sagen: »es regnet«, und wenn ich das unabweisliche Gefühl habe, sehr naß geworden zu sein, wie soll ich dann an der Objektivität der Aussage zweifeln, daß es draußen regnet? Selbstverständlich gibt es Täuschungen, denen alle Menschen gleichermaßen unterliegen, zum Beispiel haben alle den Eindruck, daß die Sonne morgens »aufgeht«. Niemand kann, sofern er die Erde nicht verläßt, allein aufgrund seiner Sinneswahrnehmungen diese Täuschung durchschauen, denn die Erde erscheint außerordentlich groß gegenüber der Sonnenscheibe, und deshalb interpretieren wir die Sonne automatisch als ein bewegtes Objekt vor einem stationären Hintergrund, dem »Himmelsgewölbe«, und unser Gleichgewichtssystem ist für die Drehung der Erde unempfindlich. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der erste Mensch Sonne und Erde gleichzeitig aus dem Weltraum erblickte, war der »Aufgang« der Sonne ein Phänomen, das sich lediglich aus einer Theorie, nämlich der Kopernikanischen, als Täuschung ergab.

Weiterhin muß man fragen: Für wen ist die Aussage »es regnet draußen« eine objektive Wahrheit? Sicherlich nur für den, der diesen deutschen Satz überhaupt versteht und den darin enthaltenen Worten den üblichen Sinn zuordnet. Wer kein Deutsch kann und/oder m seinem Leben noch nie einen Regen erlebt hat, dem wird dieser Satz keine Wahrheit vermitteln. Die Schrödingersche Wellengleichung mag eine tiefe Wahrheit über die Natur enthüllen, aber nur dem, der sie zu lesen vermag. Wahrheiten so die Schlußfolgerungen – beruhen auf Vereinbarungen zwischen Menschen. Diese Vereinbarungen mögen sehr eng oder sehr weitgehend sein, sie mögen von uns bewußt vollzogen werden oder von uns völlig unbewußt übernommen sein. Sie bestimmen darüber, welchen Inhalt ich einer Aussage zuordne. Die Aussage »es regnet draußen« repräsentiert für diejenigen eine Wahrheit, die sich mit mir an diesem Ort befinden, ziemlich dieselbe Sinnesausrüstung haben wie ich, des Deutschen kundig sind und die enthaltenen Worte so verstehen wie ich. Dies sind eine Menge Voraussetzungen. Eine Wahrheit »objektiv« zu nennen, die an derartig viele Voraussetzungen gebunden ist, erscheint sinnlos. Diese Kritik trifft auch auf Vollmers »hypothetischen Realismus« zu, wie er ihn im Zusammenhang mit seiner bereits erwähnten Evolutionären Erkenntnistheorie vertritt (Vollmer, 1975). So spricht Vollmer einerseits davon, alles Wissen sei hypothetisch (dem ist zuzustimmen); andererseits hält er zusammen mit Popper (1993) daran fest, daß die Welt »teilweise erkennbar und erklärbar« ist und daß es einen erkennbaren Fortschritt der Wissenschaften auf die objektive Wahrheit hin gibt. Wenn aber alles hypothetisch ist, dann auch diese Annahme. Manche Menschen glauben, die gesamten modernen Naturwissenschaften seien ein gigantischer Rückschritt gegenüber der Ideenlehre Platons oder der Schöpfungsgeschichte der Bibel. Wie kann ich absolut sicher sein, daß sie nicht recht haben? All unser Wissen ist in der Tat hypothetisch; es weist nur unterschiedliche Grade an Plausibilität, interner Konsistenz und Kohärenz auf. So kann ich jemandem, der die modernen Naturwissenschaften und ihren Naturgesetzbegriff als fundamentalen Irrtum ablehnt und dafür den Glauben an einen Gott hochhält, der unmittelbar in das tägliche Leben eingreift, Inkonsequenz in seinem Denken und Handeln nachweisen. Im täglichen Leben verläßt er sich nicht ständig auf göttliche Fügung, sondern darauf, daß bestimmte Dinge in vorhersehbarer Weise funktionieren. Warum sollte er sonst sein Auto zur Inspektion bringen? (Er mag natürlich mit Leibniz der Überzeugung sein, Gott habe alles eingerichtet, als ob es naturgesetzlich zugehe, aber dann muß er sich nach diesem Anschein richten). Damit der Begriff des hypothetischen Realismus nicht ein Widerspruch in sich selbst wird, greift Vollmer zu der Vorstellung: Objektive Wahrheit existiert an sich, unabhängig von menschlichem Denken. Wir haben daher die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, und tun das wohl auch manchmal, nur können wir nicht mit Bestimmtheit wissen, wann wir dies tun. Ich mag also in diesem Augenblick zufällig etwas objektiv Richtiges sagen bzw. schreiben, nur kann ich das nie überprüfen. Hierin folgt Vollmer K. Popper, der bei aller Betonung der Unmöglichkeit, absolutes Wissen zu erreichen, ebenfalls an der »Idee des objektivistischen und absoluten Wahrheitsbegriffs« festhält (Popper, 1993). Was aber hat man damit gewonnen? Was nützt mir die Idee Gottes, wenn ich gleichzeitig der Meinung bin, daß er grundsätzlich unerkennbar ist? Ich kann dann weder der »absoluten Wahrheit« noch »Gott« irgendwelche Eigenschaften zuschreiben außer der, daß beide unerkennbar sind. Ich tue hierbei nichts anderes als eine Größe als nicht-definierbar zu definieren. Wie sollte eine bewußtseinsunabhängige, objektive Wahrheit überhaupt ausgedrückt werden können? Jeder Satz benötigt zu seinem Verständnis außerordentlich viele Voraussetzungen, die schlicht akzeptiert werden müssen, und dies gilt für jede mathematische Formel, die in der Physik benutzt wird. Gesichertes Wissen ist hingegen möglich, wenn wir unter »gesichert« hinreichendplausible, konsistente, kohärente Annahmen verstehen. Viele philosophische Diskussionen sind dadurch entstanden, daß man solch gesichertes Wissen als »objektives« Wissen bezeichnet, während man doch nur »intersubjektiv« meint (von Kutschera, 1982). Es gibt Dinge, die man unter den gegebenen Umständen nicht sinnvoll bezweifeln kann. Diese gegebenen Umstände können sich jedoch historisch wandeln. Was Menschen noch vor dreihundert Jahren für völlig unbezweifelbar gehalten haben, darüber mögen wir heute lachen, genauso wie Menschen in dreihundert Jahren vielleicht über unsere unbezweifelbaren Wahrheiten lachen werden. Kann man sinnvoll über eine bewußtseinsunabhängige Welt sprechen? Ein gängiger Einwand gegen den Konstruktivismus lautet: Die meisten erkenntniskritischen Argumente des Konstruktivismus sind ja berechtigt, auch wenn sie nicht neu bzw. originell sind. Mit der Ablehnung der Erkennbarkeit einer bewußtseinsunabhängigen Welt geht er aber zu weit, ist er zu radikal (Nüse et al., 1991). Wie wir gehört haben, waren und sind Philosophen über die Existenz und Erkennbarkeit der Realität sehr verschiedener Meinung. Ontologiscbe Realisten gehen davon aus, daß es eine Realität gibt, und nehmen zusätzlich als erkenntnistheoretische Realisten an, daß sie erfahrungsmäßig zumindest teilweise zugänglich ist. Wie wir aber gehört haben, kann man wie Kant ontologischer Realist und gleichzeitig erkenntnistheoretischer Idealist sein. Man glaubt zwar an die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Welt, hält sie aber für unerfahrbar. Der schottische Philosoph und Erkenntniskritiker David Hume hielt die Idee der Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Welt weder für beweisbar noch für widerlegbar, während Berkeley, als objektiver Idealist, diese Idee für überflüssig und gar für widerlegbar hielt (auf seine Gründe will ich hier nicht eingehen). Macht es überhaupt einen Sinn, die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Welt anzunehmen, wenn ich gleichzeitig über sie nichts erfahren kann? Ein Grund wäre in der logischen Notwendigkeit einer solchen Annahme zu suchen. Wenn ich, wie im vorigen Kapitel geschehen, davon ausgehe, daß die Wirklichkeit durch das reale Gehirn erzeugt wurde, so folgt daraus logisch, daß es eine Entität geben muß, welche nicht selbst Teil der Wirklichkeit ist. Die gesamten Ausführungen darüber, welche Funktion Wahrnehmung hat, wofür Sinnesorgane nötig sind, was sie tun, wie das Gehirn funktioniert, all dies ist natürlich unsinnig, wenn ich nicht gleichzeitig annehme, daß es eine Realität gibt, in denen ein Gehirn existiert, auf das ich diese Aussagen beziehen kann. Dies scheint nun ein Widerspruch in sich zu sein. Erst behaupte ich, die Realität sei vollkommen unerkennbar, und nun heißt es, man könne die Annahmen innerhalb der Wirklichkeit auf sie beziehen. Ich halte meinen Standpunkt aber nicht für widersprüchlich. Obwohl erkenntnistheoretisch die Realität vollkommen unzugänglich ist, muß ich erstens ihre Existenz annehmen, um nicht in elementare Widersprüche zu geraten, und zweitens kann mir niemand verbieten, mir Gedanken über die Beschaffenheit der Realität zu machen, und zwar zu dem Zweck, die Phänomene in meiner Wirklichkeit besser erklären zu können. Ich darf nur keine objektive Gültigkeit hierfür beanspruchen; vielmehr unterstreiche ich den praktischen Wert meiner Theorie. Dies ist bei vielen Modellvorstellungen der Naturwissenschaften der Fall. So glauben Physiker nicht, daß die Atome genauso aufgebaut sind, wie es das Bohrsche Atommodell sagt. Mit ihm lassen sich aber sehr viele physikalische und chemische Dinge gut erklären. Darüber hinaus ist es allerdings außerordentlich schwierig, sinnvoll die Frage der Beschaffenheit der Realität zu behandeln. Zuerst können wir fragen: Wo existiert die Realität? Wenn wir sagen, sie existiere »außerhalb« oder »jenseits« der Wirklichkeit, so machen wir räumliche Aussagen, die nur innerhalb meiner Wirklichkeit einen Sinn haben. Die Realität existiert nicht hinter oder jenseits der Wirklichkeit, und man kann nicht durch »Löcher« in der Wirklichkeit auf sie sehen. Ich kann nicht einmal die Grenzen der Wirklichkeit bestimmen. Viele Philosophen haben versucht, das Wesen der Realität zu ergründen, indem sie von den Erscheinungen der Wirklichkeit alles abzogen, was offenbar nur in unserer Erfahrungswelt Gültigkeit hat. Eine derartige »erkenntnistheoretische Reduktion der Phänomene« beginnt damit, daß wir uns klarmachen, daß Dinge in der bewußtseinsunabhängigen Welt keine Farben haben, daß es dort keine Melodien gibt, keinen Rosenduft, nichts Hartes oder Weiches. All dies, so stellen wir fest, sind »Zutaten« unseres Gehirns. Immerhin – so kann man einwenden – gehen diese Konstrukte auf reale Einwirkungen zurück, zum Beispiel auf Licht einer bestimmten Wellenlänge oder Überlagerungen und Abfolgen von Schalldruckwellen bestimmter Frequenz. Der sinnes- und neurophysiologisch Versierte entgegnet, daß diese Bezüge eben nicht eindeutig sind. Wir können ein Rot unter vielen Wellenlängenbedingungen wahrnehmen oder gar als rotes Nachbild eines grünen Reizes. Es ist dann überhaupt nichts da, was der Empfindung von »rot« eindeutig physikalisch entspräche. Im Falle dessen, was unser Gedächtnis zu den aktuellen Sinnesdaten »hinzutut«, um eine komplette Wahrnehmung herzustellen (vgl. Kapitel n), gibt es noch nicht einmal eine »Einwirkung« von Sinnesreizen. Ebenso sind die Größe und die Gestalt von Dingen nichts, was der Realität zukommt. Eine Gestalt, die uns als vollkommen rund erscheint, ist nicht als rundes (erst recht nicht vollkommen rundes) Gebilde auf der Netzhaut vorhanden oder in der sogenannten primären retmotopen Karte m Vi/Ai/. Dort wird nämlich gar nichts abgebildet, sondern dort feuern Nervenzellen. Der vollkommen runde Kreis ist vollkommen rund aufgrund unseres Vorwissens. Wir können diese Reduktion auf die Begriffe von Raum und Zeit ausdehnen und werden feststellen, daß auch sie jeden Sinn verlieren, wenn wir sie von unserer Wirklichkeit abtrennen. Der reale Raum ist — -wie wir gehört haben — weder »real« dreidimensional-euklidisch noch relativistisch, sondern dies sind Vorstellungen in unserer Wirklichkeit; und Aussagen wie »oben«, »hinter« und »in« haben außerhalb unserer Wirklichkeit keine Bedeutung. Dasselbe gilt für die Zeit. Ist die Realität also völlig eigenschaftslos? Halt! werden nun viele sagen. Es gibt sehr wohl Eigenschaften der Realität, nämlich all diejenigen, welche die Physik als die grundlegendste aller Naturwissenschaften festgestellt hat. Nicht umsonst nennen viele erkenntniskritische Philosophen und Psychologen die Realität »physikalische Welt«. Diese Wissenschaft sagt uns doch gerade, daß das Licht, wenn schon keine Farben, so doch unterschiedliche Wellenlängen besitzt, daß der Raum nicht dreidimensional-euklidisch ist, sondern in relativistischer Weise vierdimensional (mit der Zeit als einer Art vierter Dimension); sie sagt, daß dasjenige, was wir als »feste Materie« ansehen, »in Wirklichkeit« nahezu leerer Raum ist mit ein paar Molekülen und Atomen dann; und so weiter. Sie stellt Gesetzmäßigkeiten auf, die unabhängig von jedem Beobachter und in beliebigen Teilen unseres Weltalls gelten. Die von der Physik beschriebene Welt muß also identisch mit der objektiven Realität sein! Diese Anschauung vom objektiven Charakter der Aussagen der Physik ist zwar weit verbreitet, jedoch unzutreffend. Alle Begriffe der Physik sind menschlichem Geist entsprungen und beruhen auf menschlichen Vorstellungen und Vereinbarungen, die sich in Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden mühsam herausgebildet haben. Sie setzen andere Begriffe voraus, von denen sie abgeleitet wurden, oder sie sind nicht weiter (oder nur zirkulär) erklärbare Setzungen wie die Begriffe »Masse«, »Kraft« oder »Energie«. Die Physik bedient sich der Sprache der Mathematik, die ebenfalls nicht voraussetzungslos ist, sondern auf (nicht ableitbaren) Axiomen aufruht. Auch muß gefragt werden, welche Physik die Realität widerspiegeln soll. Wie im 12. Kapitel dieses Buches erwähnt wurde, gibt es gar nicht die eine Physik, sondern mehrere Bereiche physikalischer Phänomene, die teilweise unabhängig voneinander existieren wie die Elektrodynamik und die Mechanik, teils zueinander partiell widersprüchlich sind wie die Mikro- und die Makrophysik. Spiegelt die Quantenphysik die Realität eher wider als die Festkörperphysik oder die Relativitätstheorie? Wollte man – wie es viele tun – die Quantenphysik als die grundlegende Darstellung der Realität ansehen, so käme man in große Schwierigkeiten bei der Frage, ob es Elektronen oder Quarks »wirklich« gibt. Die Frage nach der Realität solcher Phänomene über das physikalische Experiment hinaus ist nicht Gegenstand der Physik und ist daher auch nicht sinnvoll zu stellen, erst recht nicht, wenn man als Quantenphysiker annehmen muß, daß die Eigenschaften der untersuchten Phänomene überhaupt erst im Meßvorgang entstehen. Dasselbe gilt für die Naturgesetze. Naturgesetze werden mithilfe von Experimenten nachgewiesen, in denen zum Teil komplizierte Meßapparaturen zum Einsatz kommen, die jede für sich nur unter sehr begrenzten Bedingungen arbeiten und spezielle Theorien voraussetzen. Außerhalb dieser Voraussetzungen gibt es keine Naturgesetze. Physik ist wie jede Naturwissenschaft eine Beschreibung von Phänomenen der Wirklichkeit, die an die Bedingungen dieser Wirklichkeit gebunden ist und daher einen Teil von ihr bildet. Die Physik mag die beste, kritischste oder allgemeinste Beschreibung der Phänomene der Wirklichkeit sein, aber sie übersteigt die Wirklichkeit nicht. Letztlich ist jedes Nachdenken über die objektive Realität, sei es wissenschaftlich oder nicht, an die Bedingungen menschlichen Denkens, Sprechens und Handelns gebunden und muß sich darin bewähren. Deshalb sind die Konstrukte unseres Gehirns nicht willkürlich.

Die Auflösung der Paradoxien aus dem ersten Kapitel: Ich habe im ersten Kapitel vier Paradoxien genannt, die entstehen, wenn ich die Einsichten der Hirnforschung auf mich selber anzuwenden versuche und mir darüber klar werde, daß ich als Hirnforscher zugleich Erkenntnissubjekt, Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekt bin. Als ein Gehirnzustand (ein bewußtes Ich) versuche ich mithilfe von Gehirnzuständen (mithilfe meines Wahrnehmens und Nachdenkens) Auskunft über Gehirnzustände zu erlangen (nämlich Wahrnehmen, Denken, Fühlen usw.). Letztlich versuche ich herauszubekommen, wie ich entstehe und wer ich bin. Die Lösungen der (scheinbaren) Paradoxien habe ich bereits in den letzten Kapiteln geliefert, ich will sie hier der Vollständigkeit halber aber noch einmal explizit wiederholen. Die erste Paradoxie löst sich auf, wenn ich die Unterscheidung zwischen »drinnen« und »draußen« als eine Unterscheidung in meiner (vom realen Gehirn erzeugten) Wirklichkeit erkenne. Die Gegenstände meiner Wahrnehmung werden durch das Gehirn dem »draußen« zugeordnet. Die Annahme, daß sie im Gehirn entstehen, ist von uns erschlossen, kann aber erlebnismäßig nicht nachvollzogen werden, denn das reale Gehirn, welches »in sich« die Wirklichkeit erzeugt (was auch immer das bedeuten mag), ist mir erlebnismäßig unzugänglich. Die Paradoxie, daß mein Gehirn ein Teil der Welt ist und sie gleichzeitig hervorbringt, wird durch die Unterscheidung zwischen realem und wirklichem Gehirn gelöst. Vom realen Gehirn nehmen wir an, daß es die Wirklichkeit hervorbringt, in der es wirkliche Organismen mit wirklichen Gehirnen gibt, die mir anschaulich gegeben sind (unter Umständen auch mein eigenes). Die wirklichen Gehirne enthalten aber nicht wieder die wahrgenommene Welt und bringen sie auch nicht hervor, sondern sie sind ein Teil von ihr. Die Paradoxie, daß ich im Gehirn keine Farben, Formen, Töne, keine Gedanken und Erinnerungen entdecke, sondern Nervenzellen bzw. Verbände von Nervenzellen und ihre Aktivitäten, löst sich dadurch auf, daß dieses anschauliche Gehirn nicht dasjenige ist, welches mentale Zustände hervorbringt. Wir können in unserer Wirklichkeit nur die Parallelität beider Prozesse feststellen. Gleichzeitig gehen wir angesichts der Neutralität des neuronalen Codes davon aus, daß die verschiedenen Modalitäten und Qualitäten (ebenso wie alle anderen Inhalte unserer Wahrnehmung) Konstrukte des Gehirns aufgrund interner Kriterien sind, Kriterien freilich, die sich – so dürfen wir annehmen – stammesgeschichtlich und individualgeschichtlich bewährt haben (hinreichend waren). Über die letzte Paradoxie, die Selbstbezüglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis über das Gehirn, habe ich soeben ausführlich gesprochen. Sie verschwindet, wenn ich auch als Wissenschaftler den Anspruch aufgebe, objektive Wahrheiten zu verkünden, zum Beispiel in diesem Buch. Ich kann lediglich dafür sorgen, daß dasjenige, was ich hier dargestellt habe, gehobene Ansprüche an Plausibilität und interne Konsistenz erfüllt.

Gerhard Roth
Das Gehirn und seine Wirklichkeit
Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen
 

 
 

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„Was ist Wahrheit?“

Je länger wir diesen „Kern“ zu fassen suchen, desto mehr erscheint er selbst als ein Mythos – als Versuch, sich eine bestimmte Vorstellung der Vergangenheit plausibel zu machen. Es war eine Art Schock, als die oral history Forschung erklärte, dass in schriftlosen Kulturen selbst eindrucksvollste Ereignisse nach etwa neunzig Jahren nicht mehr wortwörtlich überliefert werden können. Auf einen Schlag ist die Hoffnung, es gebe eine exakte, authentische Überlieferung hin zu Homer, zerstört worden. Was so schnell nicht verschwinden konnte, war der Wunsch nach einem Ausweg. Homer durfte den Regeln mündlicher Tradition nicht unterworfen sein. Er musste „jedenfalls im Kern die volle Wahrheit“ verbürgen; irgendeine Brücke über die Zeit sollte sein, und wenn es eine überzeitliche Genauigkeitsliebe wäre, die sich in Linear B als „Bewusstsein für Faktentreue, präzise Deskription und Bilanzierungskorrektheit“ finde. Garantieren denn Steuerquittungen ein Interesse an der Vergangenheit?

Fraglos hielten Homers Zuhörer ganz wie die seiner Vorgänger, was sie hörten, für „wahr“. Nur ist der Gegenbegriff zu dieser speziellen Form von „wahr“ nicht „falsch“, sondern wenn es einen gäbe, wäre er „irrelevant“. Zeus’ Gattin ist Hera, |136| bei Homer erst recht, aber in einer Szene ist es Dione, „Frau Zeus“. Man kann an eine spezifische Quelle denken oder Dione zum Alternativnamen für Hera erklären – Tatsache ist, dass mythisches Denken mit parallelen Erklärungen leben kann, ohne eine davon zur „Lüge“ zu machen. Noch die Bibel enthält zwei Schöpfungsberichte nacheinander, die stehen geblieben sind, weil sie sich in ihren Schwerpunkten ergänzen. In zwei gegensätzlichen Varianten kann das Spiegelbild eines – nach unseren Begriffen – historischen Ereignisses verborgen sein, aber seiner Veränderung sind fast keine Grenzen gesetzt. Falls Hektor (oder Paris) in einem Teil der Tradition Grieche war und in einem anderen Troer, falls Troia mal von Mykene und mal von Theben aus angegriffen wurde, ist es eine falsche Reaktion, nach der „Lüge“ zu suchen. Der schlafende Kaiser im Kyffhäuser, dessen Bart um den Tisch wächst, ist Friedrich Barbarossa und Friedrich II., nicht entweder – oder. Wäre die „Wahrheit“, der historische „Kern“ dieser Figur die Existenz des fraglichen Berges und das nachweisliche Vorkommen mittelalterlicher Kaiser mit Bart? Sollte sich je ein Kellergewölbe mit Steintisch finden, würde das etwas an der Aussage der Kyffhäusersage ändern, und wäre sie sonst „gelogen“? Es scheint fast, als brächten wir die Wahrheiten durcheinander.

Jörg Fündling
Die Welt Homers

 


 

 
 

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Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. Man denke sich an jede dieser Abkürzungen einige Hundert oder Dutzend Druckseiten geknüpft, an jede Seite einen Mann mit zehn Fingern, der sie schreibt, an jeden Finger zehn Schüler und zehn Gegner, an jeden Schüler und Gegner zehn Finger, und an jeden Finger den zehnten Teil einer persönlichen Idee, so gewinnt man eine kleine Vorstellung von ihr. Ohne sie kann selbst der bekannte Sperling nicht vom Dach fallen. Sonne, Wind, Nahrung haben ihn hingeführt, Krankheit, Hunger, Kälte oder eine Katze ihn getötet; aber alles das hätte nicht ohne biologische, psychologische, meteorologische, physikalische, chemische, soziale usw. Gesetze geschehen können, und es ist eine rechte Beruhigung, wenn man solche Gesetze bloß sucht, statt daß man sie, wie in der Moral und Rechtsgelehrtheit, selbst erzeugt.

Robert Musil
Der Mann ohne Eigenschaften

 


 

 
 

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Denn dies ist der traurige Zustand der Welt: Alle Wahrheiten haben irgendeinen Pferdefuß. Es gibt praktisch nichts, was man nicht bezweifeln kann, überall lauern Risiken und Nebenwirkungen, die sich eines Tages selbständig machen und in das Gewand der Wahrheit schlüpfen können. Die Wahrheit ist dann wie ein Pendel. Die wahre Synthese zeigt sich allenfalls auf einer höheren Ebene, oft so hoch, daß dort oben nichts Greifbares mehr zu erkennen ist. Der griechische Philosoph Zenon, der im fünften Jahrhundert v. Chr. in Elea, südlich von Neapel, lebte, soll, laut Platon, mit solcher Kunst geredet haben, daß den Zuhörern ein und dasselbe als gleich und ungleich, als eines und vieles, und ferner als ruhig und bewegt erschien (Phaidros 261 d). Zenon als erster Dialektiker konnte also zeigen, wie relativ alle Wahrheit ist. Die gesamte Philosophie von Platon ist in Dialogen geschrieben, in denen zwar schwächere und stärkere Argumente verarbeitet werden, und natürlich werden die stärkeren Argumente in der Regel Sokrates in den Mund gelegt, aber die oft gegensätzlichen Positionen sind nicht die Vorbereitung irgendeiner Synthese, die dann als »die« Wahrheit herausgestellt werden kann, sondern sie sind der Weg, der selbst schon ein Bestandteil der Wahrheit ist. Manchmal klappt es ja mit »pro« und »contra«, dem dann eine »Conclusio« folgt. Meist sind jedoch Suchen und Finden der Lösung keine trennbaren Einheiten, sie sind ein Teil der unfaßbaren Wahrheit. Die so verstandene Wahrheit verbirgt sich über und hinter den Thesen, ohne in ihnen selbst schon enthalten zu sein. Dieses Dilemma hat Goethe immer wieder erlebt und in seinen Werken dargestellt. Die Quintessenz brachte er einmal mit folgendem Satz zum Ausdruck: »Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht.« (Wilhelm Meisters Wanderjahre) Das ewig tätige Leben ist etwas Unfaßbares; es ist, wie schon Heraklit wußte, ein Fluß, der jedesmal, wenn man ihn betritt, ein anderer ist. Das Leben kommt ebenfalls nie zur Ruhe. Wer die Wahrheit festnageln will, müßte den Fluß oder das Leben anhalten. Dialektik ist die Kunst, hinter gegensätzlichen Erscheinungsformen die Einheit zu spüren. Diese Einheit ist jedoch ebenfalls nichts Bleibendes. Sören Kierkegaard schrieb einmal über die »Dialektik der Mitteilung« folgenden Satz: »Während das objektive Denken alles im Resultat ausdrückt und der ganzen Menschheit durch Abschreiben und Ableiern des Resultats und des Fazits zum Mogeln verhilft, setzt das subjektive Denken alles ins Werden und läßt das Resultat weg.« Der subjektive Denker ist als »Existierender ständig im Werden«. Also kann man nicht nur nicht zweimal in den gleichen Fluß steigen, wie Heraklit meinte. Selbst wenn man dies könnte, dann wäre es, nach Kierkegaard, nicht zweimal der gleiche Mensch, denn dieser ändert sich ja auch ständig. Dialektik verhilft uns zu der Einsicht, wie sehr unsere Erkenntnisse immer unvollkommen sein müssen. Hilft uns das aber auch im Alltag weiter? Leider nur ganz indirekt. Hier müssen wir nämlich entscheiden. Tausende Fragen bedrängen uns, und wir können die Welt nie darauf verweisen, daß wir die Wahrheit nicht zu fassen bekommen. Wir müssen mitten hindurch. Was uns bleibt, ist die Einsicht, daß ein Mensch, der anders entscheidet als wir, deshalb in unseren Augen kein Unmensch sein muß, nur weil er sich an einem anderen Rockzipfel der allmächtigen Mutter Wahrheit festklammert.

Frieder Lauxmann
Philosophisches ABC

 


 

 
 

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Von der Vermutung über die Behauptung »so ist es!« bis schließlich zur Wahrheit ist allerdings ein weiter Weg. Für Popper ist dieser Weg sogar unendlich lang, denn das, was wir letztlich doch nur erreichen können, sei »Vermutungswissen«. Im Gegensatz zur Auffassung im Alltagsverstand sei die Verbindung von Vermutung und Wissen kein Widerspruch in sich, denn es haben ja objektive Gründe, Forschungsergebnisse und praktikable Theorien zu solchen Vermutungen geführt. Der objektiven Wahrheit kann man sich nach Popper nur allmählich und schrittweise nähern, ohne je ganz ans Ziel zu kommen, denn es bleibt immer eine gewisse Unsicherheit, so daß selbst die handfesteste Theorie, mit der man arbeiten kann und die sich als zuverlässig erwiesen hat, immer noch einen hypothetischen Hintergrund hat. Eines Tages kann auch sie erschüttert werden. Was hat nun Poppers Einstein mit der Amöbe zu tun? Beide können sich irren und Fehler begehen. Beide können versuchen, auf dem Weg zum Ziel ihre Fehler zu korrigieren. Bei Einstein kommt jedoch noch etwas hinzu, und diesen einen Schritt Einsteins erklärt Popper so: »Er versucht, seine Theorien zu widerlegen: Er verhält sich ihnen gegenüber bewußt kritisch und versucht sie daher möglichst scharf, nicht vage zu formulieren. Dagegen kann sich die Amöbe nicht kritisch gegenüber ihren Erwartungen oder Hypothesen verhalten, weil sie sich ihre Hypothesen nicht vorstellen kann. Sie sind ein Teil von ihr.« (a. a. O ., S. 37) Gilt dies alles nur für die Wissenschaft? Im Alltag verwenden wir das Wort Hypothese normalerweise nicht für unsere Vermutungen. Und dennoch arbeiten wir täglich mit vorläufigen Wahrheiten. Wenn wir auf sie verzichten müßten, wären wir unbeholfen wie Lichtenbergs Gelehrte, die nur Schutt produzieren, weil sie ihre Beobachtungen nicht einordnen können. Das wichtigste ist die Erkenntnis von der Vorläufigkeit alles unseres Wissens, die von uns die meist unbequeme Bereitschaft abverlangt, unser Wissen neu zu organisieren, wenn sich herausstellt, daß seine Stützen ins Wanken geraten sind. Den Unterschied zwischen Einstein und der Amöbe könnte man auch etwas weniger provozierend als den zwischen Mensch und Tier darstellen. Das Tier reagiert normalerweise nach einem ihm von Natur aus mitgegebenen Verhaltensmuster, während der Mensch immer wieder gezwungen ist, nach neuen Erkenntnissen zu suchen. Er muß und kann sich und sein Verhalten in Frage stellen, er erlebt sich als »Ich«.

Frieder Lauxmann
Philosophisches ABC

 
 

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Den nächsten Weg zum Ziel kann man am leichtesten finden, wenn ihn andere schon gegangen sind. Ausgetretene Spuren verraten meist jedoch nicht, welche Irrwege beschritten werden mußten, bis sie gefestigt waren. Das funktionale, logische Denken muß uns, wenn wir richtig mit ihm arbeiten, Wege durch Denklabyrinthe weisen, zumindest können wir diese Wege anhand dieses Denkens beurteilen und überprüfen. Das wirklich Neue liegt jedoch nicht an angelegten Wegen, auch nicht auf der Datenautobahn, es liegt dort, wo uns die vom wachen Verstand begleitete Intuition hinführen kann. Dort im Neuen lauern Gefahren, Überraschungen, vor allem aber überall Irrtümer. Die Methode, etwas noch Verborgenes zu finden, ist in der Theorie ganz einfach. Sie funktioniert nach dem System »Versuch und Irrtum«. Man geht den falschen Weg, bis man merkt, daß er nicht zum Ziel führt. Dann folgen weitere Versuche, so lange, bis der rechte Weg gefunden ist. So sucht sich schon die Fliege ihren Weg. Wer dieses aufwendige Suchen vermeiden will, muß gedanklich im voraus die Zahl der möglichen Irrtümer ausschließen. Er muß die richtigen Informationen herbeischaffen und sie auf die richtige Weise verarbeiten. Dies klingt wie eine Binsenweisheit, ist aber keine. Karl Popper weist darauf hin, daß der Alltagsverstand den Irrtum nur als »schlechte geistige Verdauung« der Informationselemente z. B. durch Vorurteile oder falsche logische Schlüsse etc. werte. (Objektive Erkenntnis, S. 80) Damit gibt er sich jedoch nicht zufrieden. Der Hauptfehler des »Alltagsverstandes« ist für Popper die Suche nach Gewißheit. Nicht um sie soll es gehen, sondern nur um die systematische Eliminierung von Irrtümern. Doch um einen Irrtum zu entdecken, muß man zunächst einmal wissen, daß es ihn gibt, daß der Weg, auf dem wir noch so zufrieden wandeln, ein Holzweg ist. Das ist das Problem. »Alle Menschen sind fehlbar, und unsere Suche nach objektiver Wahrheit ist bedroht von unserer Hoffnung, sie bereits gefunden zu haben.« (a. a. O., S. 7) Mit anderen Worten: Einen Irrtum, den man nicht entlarvt, hält man für eine Wahrheit. Und was man für wahr hält, wird normalerweise nicht bezweifelt, also sucht man gar nicht weiter. Das mag ein paar Tage, Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte gutgehen. So lange, bis eines Tages der Irrtum entdeckt wird. Popper empfiehlt daher nicht die Suche nach Wahrheit, sondern die nach Irrtümern. Denn jeder aufgeklärte Irrtum bringt uns automatisch der Wahrheit ein Stück näher. Irrtümer sind also nicht ein überflüssiges Abfallprodukt, sondern ein wichtiges Fortbewegungsmittel auf dem Weg unseres Denkens. Wer sich nicht dazu bekennt, irren zu können, ja bewußt auch Irrtümer auf dem Weg zu weiterer Erkenntnis in Kauf zu nehmen, der sollte das Denken gleich bleiben lassen. Allerdings: Es genügt nicht, sich zu den Umwegen zu bekennen. Es bleibt das Bemühen, direkte Wege zu finden, Vorurteile, Trugschlüsse und Denkblockaden einzuschränken. Vor allem geht es darum, Informationen richtig zu bewerten und zu verarbeiten. Die richtige Verdauung von Informationsbestandteilen mag zwar, wie Popper sagt, das Problem nicht lösen, nützlich ist sie aber allemal.

Frieder Lauxmann
Philosophisches ABC

 
 

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In den Worten Vertrag und Vertrauen ist »Ver« sprachgeschichtlich keine Vorsilbe wie in ver-lieren oder vermissen, sondern besitzt den eigenen althochdeutschen Stamm »wara« im Sinne von Schutz und Bündnistreue. So ist der Ver-trag eigentlich ein Wahrtrag, ein Schutzbündnis, und das Ver-trauen ein Wahr-trauen. Vertrag und Vertrauen bieten die Ge-»währ« für friedliches Zusammenleben. Dies gilt auch für die Wahrheit. Sie ist ein Zeichen von Treue (engl. truth – Wahrheit) und Vertrauen in die Aussage eines anderen. Heute hat »Wahrheit« zwei verschiedene Funktionen der Übereinstimmung. 1. Die (objektive) Übereinstimmung zwischen dem, was ist, und dem, was darüber ausgesagt wird. 2. Die (subjektive) Übereinstimmung unter Menschen, die einander vertrauen und sich über eine gemeinsame Wahrheit verständigen können, sich zu ihr bekennen. Besonders deutlich werden diese verschiedenen Wahrheitsbegriffe in den Aussagen von Popper (zu 1) und Jaspers (zu 2). Karl Poppers Wahrheitsbegriff zielt auf die objektive Erkenntnis im Dienste der Wissenschaft. Es gibt die objektive Wahrheit, »die Idee der Wahrheit ist absolut, aber es kann keine absolute Gewißheit geben: Wir suchen nach der Wahrheit, aber wir besitzen sie nicht.« (63) Daraus folgert Popper seinen Grundsatz: »Das Ziel der Wissenschaft ist die Vergrößerung der Wahrheitsähnlichkeit.« (90) Poppers Weg dorthin läßt sich leicht beschreiben. Man kommt der Wahrheit nur dann näher, wenn man das, was man für sie hält, immer wieder von neuem zu widerlegen (zu falsifizieren) sucht. Die gelungene Widerlegung führt uns einen Schritt weiter, weil sie einen Irrtum ausschaltet. Was dann übrigbleibt, ist deshalb noch nicht die Wahrheit, aber unsere Erkenntnis wird so Schritt für Schritt geläutert.

Der zweite, der kommunikative Wahrheitsbegriff ist wesentlich komplizierter. Ihm huldigte schon Lichtenberg, obwohl er selbst Naturwissenschaftler war. Es ist eine eher skeptische Feststellung, die er so formulierte: »Sätze, worüber alle Menschen übereinkommen, sind wahr; sind sie nicht wahr, so haben wir gar keine Wahrheit.« (A 136)

Das ist es ja gerade: Was nützt uns das ständige Gefühl, unsere Wahrheit sei brüchig und vorläufig, wenn wir doch in der Gegenwart gemeinsam entscheiden und handeln müssen? Wahrheit muß uns tragen, auch wenn sie nicht endgültig sein sollte. Aus diesem Grund müssen wir ihre Verwendbarkeit unter Menschen in den Vordergrund stellen. Karl Jaspers brachte diese Erkenntnis auf die Formel: »Wahrheit ist, was uns verbindet.« Er erklärte dies so: »In der Kommunikation hat Wahrheit ihren Ursprung. Der Mensch findet in der Welt den anderen Menschen als die einzige Wirklichkeit, mit der er sich verstehend und verläßlich verbünden kann. Auf allen Stufen der Verbindung zwischen Menschen finden Schicksalsgefährten liebend den Weg zur Wahrheit.« (Philosophischer Glaube, S. 40). Noch kürzer äußerte sich Antoine de Saint-Exupéry in seinem Buch »Terre des hommes« (deutsch: Wind, Sand und Sterne): »Für den Menschen gibt es nur eine Wahrheit, das ist die, die aus ihm einen Menschen macht.« (S. 180) Dies führt zur wohl berühmtesten Frage nach der Wahrheit, einer Frage, die nicht beantwortet wurde, weil das, was die Frage ausgelöst hatte, schon die Antwort war. Jesus sagte (nach Johannes im 18. Kapitel): »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.« Diese Aussage ist vielschichtig: Wer »aus« der Wahrheit ist, dem werden die Ohren geöffnet, der hat ein ganz neues Hörerlebnis, modern gesprochen: der hört die Stimme des Alls, der Weltgesamtheit, Gottes, aber auch eine Stimme aus seinem uneingegrenzten Selbst. Man muß also »wahrer« Mensch werden, um diese Stimme zu hören. Sie wiederum macht einen zum wahren Menschen. Wahrheit bringt also über das Hören eine Art Rückkopplungsprozeß in Gang.

Unabhängig davon, wie man die Wahrheit ansieht, ist die Frage, wie man mit ihr umgeht. Thomas von Aquin war sicher nicht naiv, aber ein Satz von ihm über die Wahrheit ist doch fast ein wenig zu unbekümmert: »Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, daß man ihn vom Irrtum zur Wahrheit führt.« (Über die göttlichen Namen, Nr. 1006) Diese Aussage ist »wahr«, aber ob jeder die Wahrheit des anderen auch für sich selbst akzeptieren will und kann, das steht wohl auf einem anderen Blatt. Solange es mit der Kommunikation nicht klappt, kann man sich Wahrheiten gegenseitig um den Kopf schlagen, und dies ist »wahrlich« keine Wohltat – für keinen der beiden. Und weil das so ist, bleibt die Wahrheit eine scheue, flüchtige Gestalt. Selbst wenn es eine objektive und ewige Wahrheit geben sollte, tappen wir immer nur nach ihrem Schatten. Und wenn wir endlich meinen, sie eingefangen zu haben, dann stehen wir doch mit leeren Händen da. Die Wahrheit neckt uns damit, daß ihr Gegenteil meist nicht die Unwahrheit, sondern eine »Gegenwahrheit« ist, ohne die weder die eine noch die andere bestehen kann. Denn Wahrheit setzt Gegenkräfte in Gang. Wer nicht mit ihnen rechnet, verliert das bewahrende Vertrauen. Diese Gegenkräfte zeigen uns, daß die Wahrheit den, der sie zu besitzen meint, verdirbt. Wahrheit läßt sich nicht einfrieren, sie muß immer neu gehegt und frisch geerntet werden. Erwin Chargaff (geboren 1905) brachte diese Erkenntnis auf die Kurzformel: »Keine Wahrheit kann ihre genaue Formulierung überleben.« Und: »Nichts ist so wahr, wie man es sagt.« (Bemerkungen, S. 118, S. 133) Wahrheit nützt nur, wenn von ihr ein weiser Gebrauch gemacht wird. Ohne Weisheit ist Wahrheit eine wertlose und doch gefährliche Angelegenheit.

Frieder Lauxmann
Philosophisches ABC


 

 
 

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Wie aber sieht das Bewußtsein aus, für das es noch keinen Zweifel gibt, für das der Zweifel noch keine konkrete Möglichkeit darstellt? Es ist – meint Kierkegaard – wie das des Kindes: unbestimmt weil unmittelbar. Unmittelbar sei nämlich alles wahr, wie schon die Griechen erkannt hätten; „aber die Wahrheit ist im nächsten Augenblick die Unwahrheit“, denn unmittelbar ist auch alles unwahr. Die Unmittelbarkeit liegt vor der Unterscheidung wahr/unwahr, und erst mit dem Zweifel tritt die Unterscheidung in Kraft. Die Frage, ob denn das Bewußtsein nicht in der Unmittelbarkeit verbleiben könne, bezeichnet der Däne als töricht, denn falls dies möglich wäre, würde es zur Aufhebung der Unmittelbarkeit überhaupt nicht kommen. Der Umstand, daß die Bedingungen der Möglichkeit des Zweifels sich im Verlauf der menschlichen Entwicklung zwangsläufig ergeben und keineswegs Ausdruck der Freiheit sind wie der faktische Akt des Zweifelns, dieser Umstand grenzt das Zerbrechen der Lebenseinheit durch den Zweifel ganz klar vom eigentlichen „Sündenfair ab und erweist eben das „heidnisch“-spekulative Denken als eine Zwischenstufe zwischen dem mythischen und dem christlichen. Bleibt also die Frage, wie und wodurch die Bedingungen der Möglichkeit des Zweifels entstehen.

Victor Guarda
Die Wiederholung
Analysen zur Grundstruktur menschlicher Existenz im Verständnis Sören Kierkegaards

 


 

 
 

Friedrich Nietzsche über die Wahrheit

Anders als es das Ideal wissenschaftlicher Wahrheit will, braucht das Leben „Illusionen“, d. h. „für Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten“. Die Wahrheit ist, wie Nietzsche uns erinnert, nicht immer oder zwangsläufig ein Nutzen für das Leben, und manche Wahrheiten sind, wie es in dem Nachlassfragment Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heißt, sogar gefährlich und dem Leben feindlich. An anderer Stelle macht er darauf aufmerksam, dass manche Wahrheit bitter, voller Hass oder abstoßend usw. ist. Kurz, es ist nach Nietzsche „nicht möglich […] mit der Wahrheit zu leben. Daher brauchen wir die Kunst, und das bedeutet auch, dass wir der Wissenschaft als einer Kunst bedürfen, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen. Die Wissenschaft als eine Art „Notwehr“, wie Nietzsche sagt, „gegen – die Wahrheit“ zu begreifen, stimmt auch mit seiner Definition der Wissenschaft als dem „jüngste[n]und vornehmste[n asketischen Ideal am Ende von Zur Genealogie der Moral überein.

 


 
 

Die Kausalität hört nicht deshalb auf, ein taugliches Denkmodell zu sein, weil sich viele Argumente gegen die Existenz einer Abfolge von Ursache und Wirkung vorbringen lassen. Wir haben gar keine Alternative, als in diesen Kategorien zu denken, auch wenn ihnen nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle mehr zukommt, sobald ich eine unmittelbare Erfahrung einer – oder meiner – Wahrheit mache. In der Konsequenz bedeutet dies, dass jede wirklich durchdachte Theorie ihre Berechtigung hat und einen Teil der Wahrheit erklärt. Vor ein paar Jahren hörte der Verfasser dieses Buches in einem indischen Yoga-Ashram folgende Geschichte: Ein junger Mann war auf der Suche nach der Wahrheit. Er kam nach Benares, wo er die Weisen am Ufer des Ganges beobachtete. Wen sollte er sich als Lehrer wählen? Er wollte einen Meister finden, der ihn möglichst rasch von der Täuschung zur Wahrheit führte. Seine Entscheidung fiel schließlich auf einen Mann, der bewegungslos direkt am Wasser saß und dessen Augen auf der Oberfläche des großen Stroms ruhten. Gewiss war er ein bedeutender Yogi, denn sein Körper schien kräftig und seine Muskeln stark. Auch wirkte er abgeklärt und völlig zufrieden. Niemals hatte der junge Mann ein solch glückliches Gesicht gesehen. Er näherte sich diesem Meister, berührte ehrfurchtsvoll mit der Stirn den Boden und bat, als Schüler angenommen zu werden. Der Meister fragte: »Wonach hast du das tiefste Verlangen?« Der Schüler antwortete: »Ich suche nur nach der Wahrheit.« Der Meister fragte: »Du brauchst sonst wirklich nichts auf der Welt?« »Nur die Wahrheit«, bekräftigte der Schüler. »Für sie würde ich alles hingeben, sogar mein Leben.« Da nahm ihn der starke Yogi bei den Schultern und drückte ihn mit aller Kraft in den Ganges. Er hielt ihn so lange unter Wasser, dass alle Umstehenden glaubten, er wolle ihn töten. Doch in letzter Sekunde zog der Meister ihn wieder heraus. Als der junge Mann endlich zu sich gekommen war und immer noch nach Luft rang, fragte der Yogi: »Was war dein tiefstes Verlangen, als du unter Wasser warst?« Der Mann antwortete: »Luft.« Der Yogi lächelte: »Du hast tatsächlich schnell deine Wahrheit gefunden! Du bist ein guter, schneller Schüler und darfst deswegen schon wieder weitergehen.« Die Wahrheit ist in diesem Sinne keine besondere oder abgehobene Gegebenheit. Immer hat sie mit dem unmittelbaren Leben zu tun, findet sich in dem, was wir sind und wollen. Im Untertauchen war tatsächlich die Luft das Einzige, woran der Schüler denken konnte – seine Wahrheit.

Volker Zotz
Kâmasûtra im Management
Inspirationen und Weisheiten aus Indien

 


 

 
 

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Wie viel Wahrheit braucht der Mensch? Es gibt keine allgemeine Antwort auf diese Frage. Die Wahrheit kann unmenschlicher sein als die Lüge. Wenn Kant das aus dem kategorischen Imperativ hergeleitete Gebot, nicht zu lügen, auch dann noch verteidigt, wenn die Lüge dazu dient, einen potenziellen Mörder von seinem Opfer abzuhalten, empfinde ich ihn in dieser Hinsicht als weltfremd. Da gefällt mir besser, wenn Nietzsche schreibt: »Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ›Wahrheit um jeden Preis‹, dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief… Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht.« Oft mag es zwar einfacher erscheinen, das zu sagen, was wir für die Wahrheit halten. Aber es gibt gute Gründe, dieses Gebot immer wieder zu relativieren. Auch die Wahrheit ist keine absolute Tugend, und deshalb lohnt sich die Frage, wem sie in einer bestimmten Situation nützt oder schadet. Wilhelm Busch führt uns die unerwünschten Nebenwirkungen einer uneingeschränkten Wahrheitsliebe in einem Gedicht treffend vor Augen: Wer möchte diesen Erdenball Noch fernerhin betreten, Wenn wir Bewohner überall Die Wahrheit sagen täten. Ihr hießet uns, wir hießen euch Spitzbuben und Halunken, Wir sagten uns fatales Zeug Noch eh wir uns betrunken. Da lob ich mir die Höflichkeit, Das zierliche Betrügen. Du weißt Bescheid, ich weiß Bescheid; Und allen macht’s Vergnügen. Die bewegte Wahrheit Es scheint so, als würden wir die Wahrheit häufig dadurch verfehlen, dass wir sie feststellen wollen. Vielleicht ist gerade der Versuch, eine ewige, unverrückbare Wahrheit zu finden, ein Hindernis, ihr näher zu kommen. »Die Wahrheit ist ein Meer von Grashalmen, das sich im Winde wiegt; sie will als Bewegung gefühlt, als Atem eingezogen sein. Ein Fels ist sie nur für den, der sie nicht fühlt und atmet; der soll den Kopf an ihr blutig schlagen.« Die Wahrheit ist nichts Feststellbares, sondern verändert sich ständig. Mehr noch, wir verändern die Wahrheit dadurch, dass wir sie beobachten und feststellen. Bemerkenswert, wie dieser Gedanke, der in der modernen Physik in der heisenbergschen Unschärferelation auftaucht, ähnlich schon in asiatischen Weisheitslehren, insbesondere dem Taoismus, zu finden ist. Über die Konvergenz von moderner Naturwissenschaft und Taoismus hat Fritjof Capra übrigens das faszinierende Buch »Das Tao der Physik« geschrieben. Er belegt, wie in vollkommen verschiedenen Zeitaltern verschiedene Denker von gänzlich unterschiedlichen Ausgangspunkten trotzdem zu ähnlichen Einsichten kommen. Auch schon in dem Kapitel Unpünktlichkeit hatten wir ja gesehen, wie sich durch die Relativitätstheorie in der Wissenschaft eine feststehende Zeitvorstellung auflöst und wir dadurch einem subjektiven Zeitempfinden näher kommen.

Axel Braig
Warum es sich lohnt, faul, unpünktlich und unordentlich zu sein
Das Buch der Tugendlosigkeit

 


 

 
 

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Eines Morgens – und es muss ein so schöner Morgen gewesen sein wie heute – kommt ein Mann zu Gautam Buddha und fragt ihn: „Existiert Gott?“ Alle sind neugierig zu hören, was Buddha antworten wird. Und Buddha sagt zu dem Mann: „Es gibt keinen Gott – und nicht erst seit heute, sondern es hat noch nie einen gegeben. Er ist nur ein Märchen, um die Dummen auszunutzen.“ Der Mann war äusserst schockiert. Am Nachmittag kam wieder ein Mann, und er fragte: „Wie denkst du über die Existenz Gottes?“ Wieder dieselbe Frage … Buddha schaute den Mann an und sagte: Ja, es gibt einen Gott, und es hat ihn immer gegeben.“ Und am Abend kam noch ein Mann und sagte: „Ich weiss nichts über Gott. Ich bin völlig unwissend. Ich habe erfahren, dass du hier bist, und bin nun gekommen, um von dir über dieses Thema aufgeklärt zu werden.“ Buddha schaute ihn an und schloss dann die Augen. Keine Antwort. Und die Schüler sahen, wie dieser Mann merkwürdigerweise auch seine Augen schloss. Es musste wohl eine Stunde später sein, als der Mann seine Augen wieder öffnete, Gautam Buddha die Füsse küsste und sagte: „Du hast mir die Antwort gegeben, und ich bin dir ungeheuer dankbar.“ Ananda – er war Tag und Nacht Buddhas dienender Schatten – war sehr verwirrt. Und für jeden Menschen wäre dies ein Grund zur Verwirrung gewesen: am Morgen sagt Buddha das eine, und am selben Nachmittag sagt er genau das Gegenteil davon. Und am Abend sagt er überhaupt nichts, aber der Mann bekommt trotzdem seine Antwort, berührt Buddhas Füsse mit Freudentränen in den Augen – und geht wieder! Als alle anderen gegangen waren, sagte Ananda: „Ich kann heute Nacht nicht eher schlafen, bis du mir sagst, welche von deinen Antworten die wahre Antwort ist.“ Gautam Buddha sagte: „Erstens darfst du nicht vergessen, dass keine dieser Fragen deine eigene Frage war. Warum also solltest du dir den Kopf über die Antworten zerbrechen? Du bist seit vierzig Jahren bei mir. Wenn du irgendeine Frage hättest, hättest du sie mir schon längst stellen können. Diese Fragen stammten von drei ganz verschiedenen Menschen.“ Ananda sagte: ,Es tut mir leid, das ist wahr. Keine dieser Fragen war meine, aber ich habe Ohren, und ich habe alles gehört. Und diese drei Fragen und deine drei Antworten waren so widersprüchlich, dass ich völlig aufgewühlt bin.“ Buddha sagte: „Da ist noch etwas, was du nicht verstehst. Der erste Mann, der zu mir kam, war jemand, der an Gott glaubt. Er war Theist, und alles, was er wollte, war nicht etwa eine Antwort, sondern eine Bestätigung seines Glaubens an Gott. Ich kann niemandes Glauben unterstützen. Ich bin hier, um jede Art von Glauben zu zerstören, damit jeder selbst erkennen kann, was die Wahrheit ist. Deshalb habe ich absolut abgestritten, dass es einen Gott gibt, und gesagt, dass es auch nie einen gegeben hat. Der Mann, der am Nachmittag kam, war das genaue Gegenteil: er war Atheist. Er glaubt nicht an Gott, und war auch nur gekommen, weil er Rückendeckung suchte, um den Leuten erzählen zu können: ‚Nicht nur ich bin Atheist – selbst Gautam Buddha ist Atheist.’ Aber auch das war nur ein Glaube und keine Erfahrung, denn die Erfahrung stellt nie die Fragen. Es ist nur der Glaube, der immer neue Fragen aufwirft.“

OSHO
Jenseits der Grenzen des Verstandes
Das Märchen von der Psychologie

 


 

 
 

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Die Wahrheit ist viel zu kompliziert, als dass man sich ihr anders als schrittweise nähern kann. Ich denke, dass die folgende Annahme eine vernünftige Approximation darstellt: mathematische Ideen haben ihren Ursprung in empirischen Tatsachen, obwohl die Genealogie häufig langwierig und verworren ist. Sobald jedoch eine mathematische Idee das Licht der Welt erblickt hat, beginnt sie ihr eigenständiges Leben, das durch Kreativität geprägt ist und viel stärker von ästhetischen Motivationen beherrscht wird, als von empirischen Tatsachen. Es besteht jedoch die ernste Gefahr, dass sich ein mathematisches Gebiet nach dem Prinzip vom kleinsten Widerstand entwickelt, dass der Strom weit entfernt von seiner Quelle sich in unzählige Nebenarme aufspaltet und die mathematische Disziplin an der Fülle der technischen Einzelheiten zu ersticken droht. Es besteht die Gefahr der geistigen Inzucht – der Entartung. Am Anfang ist der Stil klassisch. Die Warnlampe leuchtet auf, wenn der Stil barock wird. Die einzige Rettung besteht dann darin, zu den Quellen zurückzukehren und mehr oder weniger direkt neue empirische Ideen einzuspeisen.

János (John) von Neumann

 


 

 
 

 

MARTIN HEIDEGGER

 
 

GESAMTAUSGABE

III. ABTEILUNG: UNVEROFFENTLICHTE ABHANDLUNGEN

VORTRÄGE – GEDACHTES

BAND 65 BEITRAGE ZUR PHILOSOPHIE

(Vom Ereignis)

 
 

V. Die Gründung,

208. Die Wahrheit

Wahrheit ist als das Ereignis des Wahren die abgründige Zerklüftung, in der das Seiende zur Entzweiung kommt und im Streit stehen muß.

Wahrheit ist uns auch nicht das Festgemachte, jener verdächtige Nachkomme der Gültigkeiten an sich. Sie ist aber auch nicht das bloße Gegenteil, das grobe Fließen und Flüssigbleiben aller Meinungen. Sie ist die abgründige Mitte, die erzittert im Vorbeigang des Gottes und so der ausgestandene Grund ist für die Gründung des schaffenden Da-seins.

Wahrheit ist die große Verachterin alles »Wahren«, denn dieses vergißt sogleich die Wahrheit, die sichere Entfachung der Einfachheit des Einzigen als des je Wesentlichen.

 

213. Worum es sich bei der Wahrheitsfrage handelt

1. Nicht um eine bloße Abänderung des Begriffes,

2. nicht um eine ursprünglichere Einsicht in das Wesen,

3. sondern um den Einsprung in die Wesung der Wahrheit.

4. Und demzufolge um eine Verwandlung des Menschseins im Sinne einer Ver-rückung seiner Stellung im Seienden.

5. Und deshalb zuerst um eine ursprünglichere Würdigung und Ermächtigung des Seyns selbst als Ereignis.

6. Und daher allem zuvor um die Gründung des Menschseins im Da-sein als dem vom Seyn selbst ernötigten Grunde seiner Wahrheit.

 

215. Die Wesung der Wahrheit

Eine entscheidende Frage: ist die Wesung der Wahrheit als Lichtung für das Sichverbergen auf das Da-sein gegründet, oder ist diese Wesung der Wahrheit selbst der Grund für das Da-sein, oder gilt beides, und was meint dabei jeweils »Grund«?

Die Fragen nur entscheidbar, wenn die Wahrheit im angezeigten Wesen als Wahrheit des Seyns und somit vom Ereignis her begriffen wird.

Was heißt dieses: vor das Sichverbergen, die Ver-sagung, Zögerung gestellt in ihrem Offen ständig sein? Verhaltenheit und daher Grund-stimmung: Erschrecken, Verhaltenheit, Scheu. Solches nur dem Menschen und wann und wie »geschenkt«

 

217. Das Wesen der Wahrheit

Ihm eignet zuinnerst, daß es geschichtlich ist. Die Geschichte der Wahrheit, des Aufleuchtens und der Verwandlung und der Gründung ihres Wesens, hat nur seltene und weit auseinander liegende Augenblicke.

Lange Zeiten scheint dieses Wesen erstarrt (vgl. die lange Geschichte der Wahrheit als Richtigkeit: ????????, (adaequatio), weil nur das durch es bestimmte Wahre gesucht und betrieben wird. Und so kommt der Anschein herauf, als sei das Wesen der Wahrheit auf Grund dieser stehengelassenen Beständigkeit sogar »ewig«, zumal wenn man sich die »Ewigkeit« als die bloße Fortdauer vorstellt.

Ob wir am Ende einer solchen langen Zeit der Verhärtung des Wesens der Wahrheit stehen und dann vor dem Tor eines neuen Augenblicks ihrer verhüllten Geschichte?

Daß eine Lichtung sich gründe für das Sichverbergende, dies meint die Fassung: Wahrheit sei lichtende Verbergung zuerst (vgl. der Ab-grund). Das Sichverbergen des Seyns in der Lichtung des Da. Im Sichverbergen west das Seyn. Das Ereignis liegt nie offen am Tag wie ein Seiendes, Anwesendes (vgl. Der Sprung, Das Seyn).

Die Er-eignung in ihrer Kehre ist weder im Zuruf noch in der Zugehörigkeit allein beschlossen, in keinem von beiden und doch beides er-schwingend, und das Erzittem dieser Er-schwingung in der Kehre des Ereignisses ist das verborgenste Wesen des Seyns. Diese Verbergung bedarf der tiefsten Lichtung. Das Seyn»braucht« das Da-sein.

Die Wahrheit »ist« nie, sondern west. Denn sie ist Wahrheit des Seyns, das »nur« west. Daher west auch alles, was zur Wahrheit gehört, der Zeit-Raum und in der Folge dann »Raum« und »Zeit«.

Das »Da« west und als Wesendes muß es zugleich in einem Sein ubemommen werden: Da-sein. Deshalb das inständliche Ausstehen der Wesung der Wahrheit des Seyns. Diese Zwiespältigkeit das Rätsel. Deshalb das Da-sein das Zwischen zwischen dem Seyn und dem Seienden (vgl. Die Gründung, 227. Vom Wesen der Wahrheit, n. 13, S. 354).

Weil dieses Wesen geschichtlich ist (vgl. S. 342), deshalb ist jede »Wahrheit« im Sinne des Wahren erst recht geschichtlich nur ein Wahres, wenn es vordem in einen Grund zurückgewachsen und dadurch zugleich zur vorauswirkenden Kraft geworden ist.

Wo die Wahrheit sich in die Gestalt der»Vernunft« und des »Vernünftigen« hüllt, ist ihr Unwesen an der Arbeit, jene zerstörerische Macht des für Alle-Gültigen, wodurch jedermann beliebig ins Recht gesetzt wird und jenes Vergnügen aufkommt, daß nur ja keiner vor dem anderen etwas Wesentliches voraus hat.

Dieser »Zauber« der Allgemeingültigkeit ist es, der die Herrschaft der Auslegung der Wahrheit als Richtigkeit befestigt und fast unerschütterlich gemacht hat.

Dies zeigt sich zuletzt darin, daß selbst dort, wo man glaubt, etwas vom geschichtlichen Wesen der Wahrheit zu begreifen, nur ein äußerlicher »Historismus« herauskommt: man meint, die Wahrheit gilt nicht ewig, sondern nur »auf Zeit«. Diese Meinung aber ist nur eine »quantitative« Einschränkung der Allgemeingültigkeit und braucht, um so etwas zu werden, als Voraussetzung, daß Wahrheit Richtigkeit und Gültigkeit sei.

Die Oberflächlichkeit dieses »Denkens« steigert sich dann noch weiter, wenn man schließlich versucht, beides, die ewige Gültigkeit an sich mit der zeitlich beschrankten, in einen Ausgleich zu bringen.

 

236. Die Wahrheit

Warum ist die Wahrheit? Ist sie denn und wie? Wäre Wahrheit nicht, worauf stünde auch nur die Möglichkeit des Warum? Wird durch die Warum-frage die Wahrheit schon in ihrem Bestand, daß sie irgendwie sein muß, bestätigt? Fragen als Suchen des Grundes, aus welchem und auf welchem die Wahrheit sein soll. Woher aber das Fragen? Liegt dem nicht ein Ausbruch des Menschen zugrunde in ein Offenes, das sich öffnet, um zu verbergen? Und ist dieses, die lichtende Verbergung, nicht das Wesen der Wahrheit? Aber woher und wie geschieht jener Ausbruch des Menschen in jenes Andere, was er selbst zu sein meint, was ihm erscheint wie sein Bezirk, und was er doch nicht eigentlich ist, das ihm eher verwehrt und verstellt wird und davon nur ein Schein ihm bleibt (das Da-sein)?

Doch worauf gründet sich die Bestimmung des Wesens der Wahrheit als lichtende Verbergung? Auf einen Anhalt an die ???????. Aber wer hat diese je maßgebend ausgedacht, und woher das Recht zu diesem Überlieferten und doch zugleich Vergessenen? Wie fassen wir einen Stand im Wesen der Wahrheit, ohne den alles »Wahre« nur ein Betrug bleibt? Durch eine Flucht in die lebensnahe Wirklichkeit eines sehr fragwürdigen »Lebens« ist hier nichts zu gewinnen.

Nahe liegt zu versuchen, ob nicht in der Frage: Warum ist Wahrheit? die Wahrheit als der Grund des Warum sich entfalten und so in ihrem Wesen bestimmen läßt.

Aber die Frage scheint doch schon an ein Wissen um »Wahrheit« verhaftet, unbestimmt und wirr und gewöhnlich genug, um wiederum fraglich zu machen, ob eine Berufung auf solches Wissen und Meinen standhält. Wo taumeln wir denn, wenn wir uns lossagen vom Schein und dem Gemeinen?

Wie, wenn wir dennoch in die Nahe des Ereignisses kamen, das verdunkelt sein mag in seinem Wesen, aber doch noch dieses zeigt, daß ein Zwischen zwischen uns und dem Seyn west und daß dieses Zwischen selbst zur Wesung des Seyns gehört.

 

237. Der Glaube und die Wahrheit

Gemeint ist hier nicht die besondere Form der Zugehörigkeit zu einem »Bekenntnis«, sondern das Wesen des Glaubens, begriffen aus dem Wesen der Wahrheit.

Glauben: das Für-wahr-halten. In dieser Bedeutung meint es die Aneignung des »Wahren«, gleichviel, wie dieses gegeben und übernehmbar ist. In dieser weiten Bedeutung: Zustimmung.

Das Für-wahr-halten wird sich wandeln je nach dem Wahren (und vollends und zuerst nach der Wahrheit und ihrem Wesen). Glauben meint aber, zumal in der offenen oder stillschweigenden Gegenstellung zum Wissen, das Für-wahr-halten dessen, was sich dem Wissen im Sinne der erklärenden Einsichtnahme entzieht (schon: eine Nachricht »glauben«, deren »Wahrheit« nicht nachgeprüft werden kann, aber verbürgt durch die Mitteilenden und Zeugen). Auch hier wird deutlich: dieses Glauben hängt in seiner Wesentlichkeit ab von der jeweils dagegen gestellten Weise des Wissens. Glauben: Für-wahr-halten dessen, was schlechthin jedem Wissen entzogen ist. Aber was heißt hier Wissen? Welches ist das eigentliche Wissen? Jenes, das das Wesen der Wahrheit weiß und demzufolge in der Kehre aus diesem Wesen selbst erst bestimmt.

Wenn das Wesen der Wahrheit ist: die Lichtung für das Sichverbergen des Seyns, dann ist Wissen: das Sichhalten in dieser Lichtung der Verbergung und somit der Grundbezug zum Sichverbergen des Seyns und zu diesem selbst.

Dieses Wissen ist dann kein bloßes Für-wahr-halten irgend eines oder eines ausgezeichneten Wahren, sondern ursprünglich: das Sichhalten im Wesen der Wahrheit.

Dieses Wissen, das wesentliche Wissen, ist dann ursprünglicher als jedes Glauben, das immer nur auf ein Wahres geht und deshalb, wenn es iiberhaupt aus der volligen Blindheit heraus sein will, notwendig doch wissen muß, was ihm wahr und Wahres heißen!

Das wesentliche Wissen ist ein Sichhalten im Wesen. Damit soll ausgedrückt sein: Es ist kein bloßes Vorstellen eines Begegnens, sondern das Aushalten innerhalb des Aufbruchs eines Entwerfens, das in der Eröffnung selbst den es tragenden Abgrund zu wissen bekommt.

Nimmt man daher »Wissen« im bisherigen Sinn des Vorstellens und Vorstellungsbesitzes, dann ist freilich das wesentliche Wissen kein »Wissen«, sondern ein »Glauben«. Allein, dieses Wort hat dann einen ganz anderen Sinn, nicht mehr den des Für-wahr-haltens, wobei Wahrheit schon, verworren genug, gewußt wird, sondern den des Sich-in-der-Wahrheit-Haltens. Und dieses ist als Entwurfhaftes immer ein Fragen, ja das ursprüngliche Fragen als solches, in dem sich der Mensch in die Wahrheit hinaus und dem Wesen zur Entscheidung stellt.

Die Fragenden dieser Art sind die ursprünglich und eigentlich Glaubenden, d. h. diejenigen, die es mit der Wahrheit selbst, nicht nur mit dem Wahren von Grund aus ernst nehmen, die zur Entscheidung stellen, ob das Wesen der Wahrheit west und ob diese Wesung selbst uns, die Wissenden, Glaubenden, Handelnden, Schaffenden, kurz die Geschichtlichen trägt und führt.

Dieses ursprüngliche Glauben hat freilich nichts von einem Hinnehmen dessen, was unmittelbar Halt bietet und den Mut überflüssig macht. Dieses Glauben ist vielmehr das Ausharren in der äußersten Entscheidung. Dies allein kann noch einmal unsere Geschichte auf einen gegründeten Grund bringen.

Denn dieses ursprüngliche Glauben ist auch kein eigensüchtiges Erraffen einer selbstgemachten Sicherheit, sofern es als Fragen sich gerade in die Wesung des Seins hinausstellt und die Notwendigkeit des Ab-gründigen erfährt.

Was ist Wahrheit?


Die Dialektik der Wahrheit


 

 

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