Was ist Vernunft?

Vernunft nennt man die mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit eines menschlichen Beobachters beliebige Kontingenzen willkürlich mit anderen Kontingenzen zu verknüpfen. Kontingenz bezeichnet hier das gemeinsame Auftreten mehrerer Ereignisse, deren Verhalten oder Eintreten nicht notwendigerweise voneinander abhängig ist; also etwas, das nicht notwendig, aber doch nicht unmöglich ist.

Mit seiner Vernunft bastelt sich der Mensch aus diesen Beobachtungen ein Modell der beobachteten Wirklichkeit zusammen, dessen Sinn es ist, ein in Bezug auf die verfolgten Zwecke sinnvolles, in sich widerspruchsfreies Modell des gemeinsamen Auftretens dieser Kontingenzen aufzustellen. Alles, was dem Beobachter nicht relevant erscheint, muss wegen der begrenzten Speicherkapazität des Gehirns und der Berechenbarkeit in einer für den beabsichtigten Zweck vertretbaren Zeit, unberücksichtigt bleiben. Die Hoffnung, die in ein solches Modell gesetzt wird, ist es, die Ungewissheit und Offenheit möglicher künftiger Entwicklungen der Wirklichkeit zu verringern, um sie im menschlichen Sinne beeinflussen, die Gesellschaft nicht blind in ihr Unglück treiben zu lassen, also Glück maximal zu ermöglichen.

Die sogenannte Wahrheit eines Modells ist eine beliebige Mischung aus dem Maß an zwischenmenschlicher Übereinstimmung, die es zu erzielen vermag, dem erreichten mathematischen Erfolg bei der Zähmung einer widerspenstigen Datenmenge, der Fähigkeit des Beobachters, sich im Streit der Meinungen durchzusetzen und der sich ergebenden Möglichkeiten zur Aufstellung umfassender Theorien durch die Synthese von Teilmodellen. Umfassende Theorien berufen sich in ihrem Wahrheitsanspruch auf das Maß an Widerspruchsfreiheit bzw. ihre logische Widerspruchsfreiheit und bedürfen immer willkürlicher, nicht beweisbarer Axiome als letzten Grund. Diese Widerspruchsfreiheit ist zwar eine notwendige Bedingung für die Wahrheit eines Modells, aber keine hinreichende Bedingung dafür.

Ganz entscheidend für die Wahrheit des Modells ist, dass Voraussagen über das Verhalten der verknüpften Kontingenzen durch Versuchsergebnisse, aus auf Grundlage des Modells geplanten Experimenten, bestätigt werden. Ist auch nur ein vertrauenswürdiges, mehrfach wiederholbares Ergebnis nicht in Übereinstimmung mit den Voraussagen aus dem Modell, dann steht es schlecht um die Wahrheit dieses Modells, selbst wenn es in sich widerspruchsfrei ist.

Von durch Vernunft gewonnenen Modellen werden im allgemeinen Sprachgebrauch Modelle des Gefühles, wie der Moral, der Kunst und der Religion abgetrennt, weil die kognitiven, auf die Vernunft sich berufenden Teile der menschlichen Kultur unser Bedürfnis nach Wahrheitserkenntnis angeblich erfüllen, während nichtkognitive, vom Gefühl her bestätigte Teile von der Wissenschaft weniger hochgeschätzte Ziele verfolgen. Geht man aber davon aus, dass unsere Sinnesempfindungen letztlich die Verbindung mit einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit herstellen, dann ist es nur logisch, dass auch Gefühle für die empfindende Person wahr sein können, selbst solche, die sie im Traum erlebt. Auch wenn diese Wahrheit keine zwischenmenschliche Übereinstimmung erzielen muss oder kann.

Deshalb sollte man, statt kognitive Modelle und nichtkognitive Modelle gegenüber zustellen, eher zwischen Modellen sozialer Zusammenarbeit und Modellen individueller Selbstentfaltung unterscheiden.

Dieser Absicht liegt das Axiom zugrunde, dass alle Modelle letztlich nur ein Ziel verfolgen: ein größeres, reicheres und befriedigenderes Leben des Individuum, seiner Angehörigen, einer Gruppe mit verpflichtenden Loyalitätsbeziehungen oder der gesamten Menschheit zu ermöglichen – es gibt keinen vom Willen zum Glück getrennten Willen zur Wahrheit, da es letztlich Ziel aller Modellbildung ist, Glück maximal zu ermöglichen.

Bei Modellen sozialer Zusammenarbeit geht es darum, die eigenen Handlungsgewohnheiten durch ein optimales Maß an zwischenmenschlicher Übereinstimmung auf die Gewohnheiten anderer Menschen abzustimmen, um gemeinsames Handeln zur Erreichung gemeinsamer Ziele (kollektiver Intentionen) in der Welt zu ermöglichen.
Bei Modellen individueller Selbstentfaltung geht es darum, dafür zu sorgen, dass die eigenen kontingenten (d.h. möglichen, aber nicht notwendigen) Handlungsgewohnheiten genügend miteinander zusammenhängen, so dass man sich ein stabiles, kohärentes Selbstbild, eine umfassende Theorie seines SELBST, zu eigen machen kann. Ein solches Selbstbild setzt aber nicht die Überzeugung voraus, dass es nur EINE Wahrheit gäbe. Denn Überzeugungen, die dabei helfen, eine bestimmte Menge von Bedürfnissen zu erfüllen, können irrelevant sein für die Befriedigung anderer Bedürfnisse, sie müssen also nicht miteinander in Einklang gebracht werden. Die Wahrheit einer persönlichen Überzeugung lässt sich einzig und alleine dadurch feststellen, indem man sie lebt, sie im Alltag ausprobiert und nachschaut, ob man selbst und die Seinen dadurch glücklicher werden. Es ist bei Modellen individueller Selbstentfaltung völlig irrelevant, ob andere, fremde Menschen damit glücklich werden könnten. Für diese subjektorientierte Vernunft ist die Quelle der Wahrheit das stabile, kohärente Selbstbild.

Davon zu unterscheiden ist die kommunikative Vernunft, die keinerlei Form von Quelle für Wahrheit ist, sondern schlicht die Tätigkeit der Rechtfertigung von Ansprüchen, die Herstellung von zwischenmenschlichem Konsens durch Begründungsangebote statt durch Drohungen oder Gewalt ist. Trivial herzustellen ist ein solcher Konsens bei gleichen Vorstellungen vom Glück der Menschheit, schwieriger wird es zum Beispiel im Falle moralischer Dilemmata, die mehrere Wahlmöglichkeiten bieten, welche untereinander zu einem Loyalitäts-, Gerechtigkeits- oder Selbstbildkonflikt der Diskurspartner führen. Wenn man das Wort „vernünftig“ gebraucht, um die eigene Lösung solcher Dilemmata zu preisen, oder den Ausdruck „der Kraft des besseren Arguments nachgeben“ verwendet, um das eigene Entscheidungsverfahren zu kennzeichnen, macht man sich selbst ein Kompliment ohne wirklichen Inhalt.

Die Vorstellung vom „besseren Argument“ hat, allgemeiner gesprochen, nur dann Sinn, wenn man eine natürliche, über das einzelne Individuum oder eine örtliche Kultur hinausgehende Relevanzbeziehung (wenn also ein Ereignis logisch aus einem anderen folgt, aus diesem ein Nächstes und so fort) ausfindig machen kann, die Aussagen in solcher Weise miteinander verbindet, dass sie so etwas wie die Cartesische „natürliche Ordnung der Gründe“ (also in der Form: wenn-dann-dann- usf.) bilden. Ohne eine natürliche Ordnung dieser Art bleibt einem nichts anderes übrig, als Argumente danach zu beurteilen, wie gut es ihnen gelingt, Einigkeit zwischen bestimmten Gruppen oder Personen zu erzielen. Aber der benötigte Begriff der natürlichen, inneren Relevanz – einer nicht nur von den Bedürfnissen einer gegebenen Gemeinschaft, sondern von der menschlichen Vernunft als solcher diktierten Form von Relevanz – also wenn die Aussage des ersten wenn, die erste Begründung nur lautet: es ist vernünftig – erscheint weder plausibler noch nützlicher als die Vorstellung von einem Gott, auf dessen Willen man sich berufen kann, um Konflikte zwischen Gemeinschaften beizulegen. Jener Begriff ist vermutlich nichts weiter als eine säkularisierte Form dieser früheren Vorstellung. Durch rationale Logik ist also die Floskel „besseres Argument“ nicht zu heroisieren.

Die Vernunft einer Überzeugung, die einem Argument zugrunde liegt, lässt sich auch bei Modellen sozialer Zusammenarbeit letztlich nur dadurch feststellen, indem man sie als Gemeinschaft im Konsens miteinander lebt, sie im Alltag ausprobiert und nachschaut, ob die soziale Gemeinschaft dadurch glücklicher wird. Modelle sozialer Zusammenarbeit und Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit sind immer nur als Experimente zu begreifen, die zu neuen Beschreibungen der Wirklichkeit führen können, sie generieren keine universellen Wahrheiten, sondern sie erzählen uns lehrreiche Geschichten.

Diese Betrachtungen sind ganz wesentlich aus der pragmatischen Philosophie Richard Rortys abgeleitet.

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