Von der Liebe der Liebenden

Das habe ich unter anderem bei der meiner Suche nach einer Definition von „Sinn des Lebens“ in Wilhelm Schmid: „Die Liebe neu erfinden: Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen gefunden und will es hier zitieren:
Allein oder zu zweit? Die Frage nach dem erfüllten Leben
.Zwei, die einander zugeneigt sind: Kaum etwas ist so schön anzusehen. Sie kleben nicht aneinander, liegen nicht aufeinander wie Verliebte, sondern zeigen den Blick füreinander, die kleine Geste zweier, die von Grund auf Gefallen aneinander haben, miteinander vertraut sind, sich beieinander geborgen fühlen. Die ganze Fülle des Menschseins scheint sich in ihnen zu versammeln, eine weitergehende Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich nicht mehr.

Demgegenüber zwei, die sich lange genug, allzu lange kennen, aufeinander losgehen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Rache aneinander nehmen: Kaum etwas ist so hässlich anzusehen. Der unbeteiligte Dritte ist versucht, ihnen zur Trennung zu raten, damit sie sich in der Distanz schätzen lernen oder allein für sich besser leben können. In der Lieblosigkeit ihres Umgangs miteinander ist keine Fülle erkennbar, nur gähnende Leere und Sinnlosigkeit. Allein oder zu zweit? Das ist die Frage, die jede und jeder für sich zu entscheiden hat, nicht nur vorweg oder an der Schwelle zu einer Beziehung, sondern auch in ihr, und nicht etwa ein für alle Mal, sondern von Phase zu Phase von Neuem.
Dem Hin- und Hergerissensein dazwischen ist jedenfalls in moderner Zeit kaum zu entkommen, die das Alleinleben sozial und ökonomisch erst ermöglicht hat, während in vormoderner Zeit das Leben als Paar und in Familie verpflichtende Norm und Notwendigkeit war; für die, die »übrig blieben«, stellte das Alleinsein eine prekäre Lebensform dar. Die Möglichkeit, wählen zu können, bringt die neue Notwendigkeit mit sich, auch wählen zu müssen, und jede Wahl zieht Konsequenzen nach sich, die kaum auszuhalten sind: In der Zweisamkeit erscheinen die damit verbundenen Einschränkungen der Freiheit irgendwann schwer erträglich. Beim Alleinsein wird vielleicht der Zustand der Freiheit irgendwann als leer empfunden. Wird die Freiheit wieder gegen eine Bindung eingetauscht, beginnt das Spiel von vorne. Eine wachsende Zahl von Menschen kennt den tragischen Zwiespalt zwischen dem Alleinleben, das auf Dauer zur Last fällt, und dem Zusammenleben, das auf Dauer zu schwierig ist: »Ohne dich will ich nicht, / mit dir kann ich nicht sein« (Element of Crime, Titelsong zum Film „Wie Robert Zimmermann sich die Liebe vorstellt“, Regie Leander Haußmann, Deutschland 2008).

Mit anderen befreundet sein kann man nur, wenn man mit sich selbst befreundet ist – und umgekehrt. Vielleicht ist das ja der ganze Sinn des Lebens? Oder umfassender, wie es Wilhelm Schmid in „Hin zum Schönen – Zur Frage der Lebenskunst in Zeiten der Krise des Eros“ (aus „Der listige Gott: Über die Zukunft des Eros“ in Philosophicum Lech, herausgegeben von Paul Liessmannn) resümiert

So kann Lebenskunst tatsächlich heißen, sich ein schönes Leben zu machen, im Sinne von: Das Leben anstrebenswert zu machen, und hierzu eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am Leben mit Anderen und an den Verhältnissen, die dieses Leben bedingen, zu leisten, um zu einem erfüllten Leben beizutragen, das nicht nur aus Glücksmomenten besteht und aus dem die Widersprüche nicht ausgeschlossen, sondern bestenfalls zu einer spannungsreichen Harmonie zusammen gespannt sind. Es handelt sich nicht unbedingt um das, was man ein leichtes Leben nennt, eher um eines, das voller Schwierigkeiten ist, die zu bewältigen sind, voller Widerstände, Komplikationen, Entbehrungen, Konflikte, die ausgefochten oder ausgehalten werden – all das, was gemeinhin nicht zum guten Leben und zum Glücklichsein zählt. Das Leben in diesem Sinne zu führen, ist der Versuch zur Realisierung eines erfüllten Lebens, erfüllt vom Bewusstsein der Existenz, erfüllt von der Erfahrung des gesamten Spektrums des Lebens, erfüllt vom vollen Genuss und Gebrauch des Lebens. Hin zum Schönen: Dazu anzuregen, ist das Anliegen des Versuchs zur Neubegründung einer Philosophie der Lebenskunst.

Weil nämlich Erotik, die beide aneinander fesselt, sich nicht in der sexuellen Lust erschöpft, sie ist von einer wesentlich umfassenderen Art, so wie sie Wilhelm Schmid im gleichen Aufsatz beschreibt:

Das Kalkül beim bewussten Gebrauch der Lüste zielt darauf, sie im Maß zu halten und nicht auf einmal aufzuzehren. Die vorsätzliche Begrenzung der Lüste hält die Sehnsucht nach ihrem Genuss wach, denn Sehnsucht gilt nur einem Gut, das nicht beliebig verfügbar ist. Das richtige Maß ist dabei nicht von vornherein festgelegt, es kann gelegentlich auch der Exzess damit gemeint sein, um sich allzu starr gewordener Gewohnheiten wieder zu entledigen; der Genuss gibt dem Leben neuen Auftrieb. Vieles liegt an der wählerischen Haltung im Umgang mit den Lüsten, um selbst darüber zu befinden, welche Lust wann, wie lange, mit wem, in welcher Situation, in welchem Maße und bis zu welchem Punkt zu gebrauchen ist. Die Lebenskunst kann auch in einer Vervielfältigung der Lüste bestehen, um ihr Potential voll auszuschöpfen: Lüste der Sinne, also des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens und Spürens, die ein inniges, intimes Genießen gestatten; Lüste des Denkens und der Reflexion, die sich in der Distanz der Abstraktion vollziehen; Lüste des Träumens und der Phantasie, in denen das Selbst fern ist von jedem Kalkül; Lüste der Erinnerung, die das gelebte Leben zu wiederholen erlauben; Lüste der Lektüre und des Gesprächs, die die Weite des Lebens zwischen Einsamkeit und Geselligkeit erfahrbar machen; Lüste des Lachens in allen Variationen, die Körper, Seele und Geist zugleich in Vibrationen versetzen; Lüste des bloßen Seins, die sich der Muße und Gelassenheit verdanken; Lüste des nomadischen Seins, die aus der vielfältigen Begegnung mit Anderen und Anderem resultieren. Die Fülle der Lüste, ihre Komposition und der gekonnte Umgang mit ihnen münden in eine Kunst der Erotik, die weit mehr umfasst als nur die Lust des Geschlechts, vielmehr eine körperlich-geistig-seelische Integrität realisiert.

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