Juan Cabanilles: Tiento I.8 lleno segundo tono

aus: Opera omnia des JOAN BAUTISTA JOSÉ CABANILLES Y BARBERÀ (1644-1712) Band I, Nr. 8
herausgegeben 1929 durch Institut d’Estudis Catalans: Biblioteca de Catalunya, Barcelona
in der Reihe: Publicacions del Departament de Música VIII

Arsenio Garcia-Ferreras, in: Juan Baptista Cabanilles. Sein Leben und Werk (Die Tientos für Orgel) (Dissertation). Bosse, Regensburg 1973, ISBN 3-7649-2086-6, unterteilt Cabanilles‘ „Tientos Llenos“ in Tokkate- und Fantasie-Llenos, sowie zwei weitere ordnet er als liturgisch gebundene Formen des Lleno ein. Er begründet das damit:

Die im Druck vorliegenden 36 TIENTOS LLENOS von Cabanilles sind mit wenigen Ausnahmen sehr lange Stücke von über 130 Takten Ausdehnung. Vierzehn von ihnen verzichten auf die traditionelle imitative Darstellung eines Themas am Anfang und beginnen statt dessen mit einem akkordischen Satz. Unter Anwendung des von Cabanilles selbst in einem Fall (Nr. 50, Bd. III, S. l68) verwendeten Ausdrucks, können diese Stücke als freie Kompositionen ohne vorgegebenes Thema („sin paso“) bezeichnet werden. Drei Werke (Nr. 6, 38, 63) sind außerdem als „de contras“ überschrieben.
Zweiundzwanzig beginnen mit einem Imitationszug oder einer der Fuge ähnlichen Exposition des Themas. Zwei behandeln liturgische Melodien: Nr. 17 die altspanische Volksweise der Hymne „Pange lingua“, Nr. 34 den Psalmton „In exitu Israel“. Die übrigen Stücke verwenden frei erfundene Themen oder allgemein gebrauchte Formeln wie die des Hexachords. Eins trägt die Überschrift „al vuelo“, die – idiomatisch betrachtet – nichts anderes bedeuten kann als „improvisiert“. Interessant ist es auch zu bemerken, daß nur 11 Tientos in einer einzigen Taktart geschrieben sind: 7 im 4/4, 2 im 3/8 und 2 im 3/4-Takt. Die anderen 25 verwenden 2 oder mehr Taktarten, genau so wie die Tientos partidos.

Diese Sammlung stellt keinen einheitlichen Tiento-Typus dar, weder in formaler oder struktureller Hinsicht noch stilistisch betrachtet. Die vielfältige und fast in jedem Stück verschiedene formale Gliederung beruht auf dem Prinzip des Kontrastes, während der Aufbau der einzelnen Abschnitte durch Regelmäßigkeit und Sequenzierung geprägt ist. Es liegen zwei-, drei- und mehrteilige Strukturen vor. Die von Anglès pauschal aufgestellte Behauptung, daß die Tientos llenos „aus zwei großen Teilen bestehen, von denen der erste im Zweier Takt (4/4) und der zweite – über ein neues Thema oder eine Variation des ersten – im Dreier Takt (12/8, 3/4, 6/4, 3/2) steht, und daß sie immer mit dem Zweier Rhythmus des ersten Teiles abschließen“, läßt sich deshalb nicht aufrechterhalten.
Der imitative und freie Kontrapunkt, der sowohl dem klassischen Tiento und dem Ricercar wie auch der Canzone und der Fantasie gemeinsam ist, spielt in diesen Werken eine wichtige Rolle, bestimmt aber nicht allein das musikalische Geschehen. Der Tokkatenstil nord- und süditalienischer Herkunft, das improvisatorische Element der Fantasie „europäischer“ Prägung sowie die bunte und virtuose Figuration der „medios registros“ werden gleichfalls verwendet. Dabei stehen oft alte und neue Stilelemente dicht nebeneinander und lassen uns bald an Cabezón, bald an Vivaldi oder Scarlatti denken.
Die starke Persönlichkeit, die subjektive Freiheit und der schöpferische Geist des Meisters aus Valencia bedienen sich aller dieser Mittel, nicht etwa um ein aus allen einheimischen und fremden Strömungen zusammengeflicktes Mosaik zu bilden, sondern um einen eigenen Stil zu entwickeln und neues Leben in übernommene Strukturen einzugießen oder neue und zukunftsweisende Formen anzubahnen. Was daraus entsteht, kann weder Canzone oder Tokkate noch Ricercar oder Fantasie genannt werden; es ist eben nur die logisch weiterentwickelte Tiento-Form, die, wie ihre verwandten Früh- und Mittelbarockformen, den moderneren Gattungen der Klassik vorausging und deren Weg bereitete. Um diese Tientos llenos von Cabanilles wenigstens in ihren Umrissen beschreiben zu können, ist es unbedingt erforderlich, sie mit näher bekannten Formen in Verbindung zu bringen und in zwei oder drei Gruppen einzuordnen, je nachdem, ob die Imitation oder die Figuration das Übergewicht erhält.

Arsenio Garcia-Ferreras:
Juan Baptista Cabanilles. Sein Leben und Werk
(Die Tientos für Orgel)

Das Tiento VIII lleno 2° tono ordnet Juan Baptista Cabanilles in die von ihm definierte Gruppe der Fantasie-Tientos ein:

Die letzte Gruppe von TIENTOS LLENOS, die noch zu betrachten sind, zeigen den Komponisten Cabanilles von einem anderen künstlerischen Gesichtswinkel aus, und lassen ihn als einen großen Meister der Variation und des Kontrapunkts erscheinen.
In den zuletzt betrachteten Werken lag wohl die Betonung auf spielerischen und tokkatischen Elementen; in den nun in Frage kommenden Stücken aber behalten die thematische Variation und die kontrapunktisch imitierende Satzweise die Oberhand.
Diese Tientos (Nr. 8, 10, 13, 23, 28, 32, 46, 52, 54, 58 und 69 ) sind im wesentlichen auf ein einziges Thema aufgebaut, das in Verkleinerung, Vergrößerung und rhythmischen Varianten oder Abwandlungen immer wieder imitiert und anders kontrapunktiert wird, genauso wie in den imitierenden Fantasien Sweelincks und Scheidts oder in den Tientos llenos von Aguilera de Heredia. Diese Werke entsprechen somit der Form der monothematischen Fantasie und können deshalb als „FANTASIE-TIENTO“ bezeichnet werden, obwohl Cabanilles selbst diesen Ausdruck nicht verwendet hat. (Im Gegensatz zu dem Begriff „Tocata“, der ja in den spanischen Handschriften ab und zu vorkommt (besonders in Verbindung mit dem Wort „italiana“), ist die Bezeichnung Fantasia so gut wie unbekannt für die span. Organisten. In den zahlreichen Manuskripten, wo Cabanilles‘ Werke überliefert sind, finden sich nur zwei als Fantasia bezeichnete Stücke: „Fantasia sobre ut re mi fa sol la“ im Ms. B1, fol. 200 (unvollendet; von Anglès dem Cabanilles zugeschrieben), und „Fantasia“ im Ms. B7, fol. 119.)
Alle diese Stücke sind in mehrere und deutlich abgegrenzte Hauptabschnitte aufgeteilt – am häufigsten drei -, die sich durch die verschiedene Umbildung und Behandlung des Themas voneinander unterscheiden: im ersten Abschnitt wird das Thema in seiner originalen Form imitierend dargestellt; im zweiten, dritten usw. in rhythmischen Varianten oder zeitlicher Verkleinerung und Vergrößerung. Allerdings kann man hier keinen bestimmten Plan in der Strukturierung feststellen wie in Sweelincks imitierenden Fantasien, da die Zahl der Abschnitte in jedem Stück verschieden ist, und die Arten der thematischen Abwandlung nicht immer in derselben Reihenfolge erscheinen. Nicht nur die frei gestalteten Passagen, sondern auch die Einordnung der thematischen Variationen bleiben also der Phantasie überlassen.

Garcia-Ferreras schreibt zu Tiento VIII lleno 2° tono:

Das Tiento Nr. 8 besteht aus drei Hauptabschnitten und bietet durch eine detaillierte Analyse folgendes Bild (Gegenthemen sind mit großen Buchstaben A-B-C… gekennzeichnet. Die Abkürzungen haben folgende Bedeutung: T = Thema; Tu = Umkehrung des Themas; Ta = (Augmentation) T. in zeitlicher Vergrößerung; Td = diminution) T. in zeitlicher Verkleinerung; Tv = Themenvariation (rhythmische – selten melodische Variante, in Klammern die Anzahl der Takte):

  1 2 (33) 3 (49) 4 (80) 5 (96)
I T+u engf. Tv + A B engf.. Zw-Sp. Tv+u engf. Bvu engf. Zw-Sp.
  6 (110) 7 (130)      
II Tv+u+Bv+u

engf.

A engf..      
  8 (139) 9 (158) 10 (166) 11 (175)  
III Bv fig.. Tv + fig. Tv+u homoph. Tuv engf.  

 


Diese verschiedenen Varianten (fast alle aus dem Thema und einem Gegenthema abgeleitet) werden zuweilen in einem dichten 4st. Satz zusammengefügt, der uns an Frescobaldis Fantasien erinnert.

Ich habe dieses Orgelwerk mit Samples der Rieger-Orgel im Konzerthaus Wien eingespielt.

Allgemeine Infos über Juan Cabanilles habe ich in meinem Beitrag Orgelwerke von Juan Cabanilles (1644-1712) zusammen getragen.

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