Joh. Seb. Bach: Toccata und Fuge c-moll BWV 911

bearbeitet für Orgel von Max Reger und von mir (mit Samples der Riegerorgel des Großen Saals im Konzerthaus Wien (Vienna Konzerthaus Organ) eingespielt.

Das Bild: „Die Neunte Woge“ (Девятый вал) von Ivan Konstantinovich Aivazovsky (1850,  Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg)

Diese Toccata hätte zusammen mit ihrem Gegenstück für Orgel in C-Dur, BWV 564, auch Toccata, Adagio und Fuge genannt werden können. Nach der einleitenden, konventionell rhetorischen Fanfare und einem adagio im stile antico (vier- und manchmal auch fünfstimmig) fährt das Werk mit einer langen Fuge fort, die in der Mitte durch wenige Takte freien Materials geteilt ist. Beide Abschnitte sind auf demselben Hauptthema begründet. Der erste, zu drei Stimmen komponiert, zeichnet sich durch gelegentliche Stimmkreuzungen aus, ein übliches Merkmal in Bachs frühen kontrapunktischen Werken, und endet in der Tonika. Nach einer kurzen Unterbrechung im stylus phantasticus verändert Bach den Charakter des Stückes, indem er die Eröffnungsmelodie im doppelten Kontrapunkt und ein verblüffendes Gegenthema in Sechzehntelnoten nebeneinanderstellt. Sowohl dies als auch die häufige Ausdünnung der Struktur auf zwei Stimmen schafft die Illusion von höherer Schnelligkeit, obwohl das eigentliche Tempo das gleiche ist wie im ersten Teil der Fuge. Trotz der majestätischen Proportionen des Satzes gewährleisten Bachs geschickte tonale Organisation und kontrapunktische Raffinesse, daß der Schwung während der einhundertzweiundvierzig Takte nicht verlorengeht. Zum Ende hin veranschaulicht das abschließende kurze presto nach einigen rhetorisch wirkungsvollen, täuschenden Kadenzen ein dramatisches Auftauchen aus der Dunkelheit ins Licht (von c-Moll zu C-Dur), und das Stück schwindet förmlich vor uns dahin. Angesichts seines Ideenreichtums, der harmonischen Ausgereiftheit, des beispielhaften Kontrapunkts, wunderschöner Melodien und des unwiderstehlichen rhythmischen Schwungs wird der aufmerksame Zuhörer dem Werk BWV 911 wahrscheinlich eher ein besseres Urteil zuordnen, als dies ein führender zeitgenössischer Bach-Experte in seiner etwas kleinlichen Einschätzung als »bestenfalls ein Teilerfolg« getan hat.

zitiert aus dem Booklet
Einführung in das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach
der Internationalen Bachakademie Stuttgart

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zwei + zwölf =