Richard Rorty und der Pragmatismus

nun endlich Richard Rorty

Richard Rorty, der amerikanische Pragmatist, wird konkreter, er meint: Toleranz und Demokratie müßte der Vorrang vor zeitloser Wahrheit, die bisher sowieso noch nicht aufgefunden wurde und wohl auch nie gefunden werden kann, eingeräumt werden. Vor allem bezweifelt er Camus‘ Behauptung, dass diese Sinnsuche in allen Fällen eine gemeinsame sein müsse. Thomas Jefferson bereits hatte den pragmatischen Standpunkt so zugespitzt: „Ob mein Nachbar an einen oder zehn Götter glaubt, raubt mir kein Geld und bricht mir kein Bein.“ Für Rorty ist das Zerbrechen des starken religiösen Konsens‘ (Säkularisierung) ein empirischer Beleg dafür, daß Gesellschaften solche Ereignisse überdauern. Er hofft in Parallelität dazu auf eine Pragmatisierung anderer Wahrheitsansprüche. Das „Privatisieren der Letzbegründung“ (der metaphysischen Ursachen oder „ersten Gründe“, der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien, sowie von Sinn und Zweck der gesamten Wirklichkeit bzw. allen Seins) ist eine Metapher für Rortys These, daß das „Öffentliche“ mit dem „Privaten“ unvereinbar, aber dennoch gleichwertig ist. Die Unvereinbarkeit ist für ihn ein angemessener Preis für das demokratische Zusammenleben.

In den Betrachtungen zu Kontingenz, Ironie – und Solidarität? Ein Blick auf Rortys Ethik von Daniel Krause lese ich:
Rortys erklärtes Ziel besteht darin, seine Leser (darunter liberale Metaphysiker à la Habermas und Rawls) davon zu ‚überzeugen’, dass Gutes zu tun bedeutet, das Maß der Grausamkeit in der Welt zu verringern. Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass Rorty liberale Metaphysiker nicht ‚überzeugen’ kann, denn die für Habermas, Rawls e tutti quanti maßgebliche Frage lautet: Ist eine gegebene Maxime (bzw. eine Allokationsregel etc.) richtig, ist sie ‚objektiv gültig’; und wie lässt sich zeigen, dass sie es ist (oder nicht). Diese Frage kann ein Pragmatist nicht stellen. Er will sie nicht stellen: Dergleichen scheint ihm müßig. Die missliche Folge: Es will ihm nicht gelingen, die Metaphysiker zu gewinnen.
Unter der notwendigen, weil einzig möglichen Voraussetzung, dass „Die Gesellschaftliche Wirklichkeit“ ein komplexes dynamisches System ist, schient mir der Satz darin  „Diese Frage kann ein Pragmatist nicht stellen. Er will sie nicht stellen: Dergleichen scheint ihm müßig.“ unsinnig, sie stellt sich unter dieser  Voraussetzung dem rationalen Verstand per se nicht, sie ist logisch nicht zu beantworten, nur unser Bedürfnis nach Bestimmtheit (siehe oben) verlangt eine Antwort, die jedoch ewig unbeantwortet bleiben muss.
 
In „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ schreibt Rorty:
„Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich »liberale Ironikerin« nenne. Meine Definition des »Liberalen« übernehme ich von Judith Shklar, die sagt, Liberale seien die Menschen, die meinen, daß Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun. »Ironikerin« nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind – nenne ich jemanden, der so nominalistisch und historistisch ist, daß er die Vorstellung aufgegeben hat, jene zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches. Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, die Hoffnungen, daß Leiden geringer wird, daß die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört. Liberale Ironiker sehen keine Antwort auf die Frage: »Warum nicht grausam sein?«, keine nicht-zirkuläre theoretische Begründung für die Überzeugung, daß Grausamkeit schrecklich ist; auch keine Entgegnung auf die Überzeugung, daß Grausamkeit schrecklich ist; auch keine Antwort auf die Frage: »Wie entscheidet man, wann man gegen Ungerechtigkeit kämpfen und wann private Selbsterschaffungspläne verfolgen soll?« Diese Frage kommt liberalen Ironikern genauso hoffnungslos unbeantwortbar vor wie die Fragen: »Ist es richtig, n Unschuldige zur Folterung auszuliefern, um das Leben von m•n anderen Unschuldigen zu retten? Wenn ja, was sind dann die genauen Werte von n und m?«, oder »Wann darf man Mitglieder der eigenen Familie oder der Gemeinschaft, in der man lebt, anderen, zufällig ausgewählten Menschen vorziehen?« Wer glaubt, es gäbe wohlbegründete theoretische Antworten auf Fragen dieses Typs – Algorithmen zur Lösung moralischer Dilemmata dieser Art -, ist im Herzen immer noch Theologe oder Metaphysiker. Er glaubt an eine Ordnung jenseits von Zeit und Veränderung, die festsetzt, worauf es im Leben ankommt, und eine Hierarchie der Verpflichtungen einrichtet. Die ironistischen Intellektuellen, die nicht an eine solche Ordnung glauben, sind (sogar in den glücklichen, reichen, gebildeten Demokratien) eine kleine Minderheit im Vergleich zu den Menschen, die glauben, eine solche Ordnung müsse es geben. Die meisten Nicht-Intellektuellen sind immer noch entweder religiösem Glauben in der einen oder anderen Form oder aber aufklärerischem Rationalismus in der einen oder anderen Variante verhaftet. Deshalb hat Ironismus oft den Anschein erweckt, als sei er dem Wesen nach nicht nur der Demokratie, sondern auch der Solidarität feind – einer Solidarität mit der Masse der Menschheit, all jenen Menschen, die überzeugt sind, daß eine solche Ordnung bestehen muß. Aber der Ironismus hat diese feindselige Einstellung nicht. Feindseligkeit gegenüber einer bestimmten, historisch bedingten und womöglich vorübergehenden Form von Solidarität heißt nicht Feindseligkeit gegenüber der Solidarität als solcher. Eine Absicht meines Buches ist es, die Möglichkeit einer liberalen Utopie vorzustellen: einer Utopie, in der Ironismus in dem Sinn, auf den es hier ankommt, universell ist. Eine post-metaphysische Kultur scheint mir nicht unmöglicher als eine post-religiöse und genauso wünschenswert. In meiner Utopie würde man Solidarität nicht als ein Faktum verstehen, das erst durch das Ausräumen von »Vorurteilen« oder durch den Vorstoß in vorher verborgene Tiefen erkennbar wird, sondern als ein anzustrebendes Ziel. Es ist nicht durch Untersuchung, sondern durch Einbildungskraft erreichbar, durch die Fähigkeit, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen. Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. Sie wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Arten von Menschen steigern. Diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen, die von uns verschieden sind, an den Rand unseres Bewußtseins zu drängen, indem wir denken: »Sie empfinden nicht so wie wir«, oder: »Leiden muß es immer geben, warum sollen nicht sie leiden?« Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als »einen von uns« sehen statt als »jene«, hängt ab von der Genauigkeit, mit der beschrieben wird, wie fremde Menschen sind, und neubeschrieben, wie wir sind. Das ist eine Aufgabe nicht für Theorie, sondern für Sparten wie Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstücke und vor allem Romane. Bücher wie die von Dickens, Olive Schreiner oder Richard Wright liefern uns Details über Leid, das Menschen ertragen, auf die wir vorher nicht aufmerksam geworden wären. Romane von Choderlos de Laclos, Henry James oder Nabokov zum Beispiel zeigen uns im Detail die Art von Grausamkeit, deren wir selbst fähig sind, und bringen uns auf diese Weise dazu, uns selbst neu zu beschreiben. Das ist der Grund, warum Roman, Kino und Fernsehen langsam aber sicher Predigt und Abhandlung in der Rolle der Hauptvehikel moralischer Veränderungen und Fortschritte abgelöst haben. In meiner liberalen Utopie würde diese Ablösung die Anerkennung erfahren, die ihr jetzt noch fehlt. Die Anerkennung wäre Teil einer allgemeinen Wendung gegen die Theorie und zur Erzählung. Eine solche Wendung wäre das Zeichen dafür, daß wir den Versuch aufgegeben haben, alle Seiten unseres Lebens in einer einzigen Vision zusammenzusehen, sie mit einem einzigen Vokabular zu beschreiben. Sie würde darauf hinauslaufen, daß wir akzeptieren, was ich im ersten Kapitel die »Kontingenz der Sprache« genannt habe – die Tatsache, daß wir keine Möglichkeit haben, uns außerhalb der diversen Vokabulare in unserem Gebrauch zu stellen und ein Metavokabular zu finden, das irgendwie alle möglichen Vokabulare, alle möglichen Weisen des Denkens und Urteilens erfaßt. Eine historistische, nominalistische Kultur, wie ich sie mir vorstelle, würde sich statt dessen auf Erzählungen einstellen, die unsere Gegenwart einerseits mit Vergangenheit, andererseits mit zukünftigen Utopien verbinden. Mehr noch: sie würde die Verwirklichung von Utopien und die Vorstellung noch fernerer Utopien als einen unendlichen Prozeß auffassen – als unendliche, immer weiter ausgreifende Verwirklichung von Freiheit, nicht als Konvergieren gegen eine schon existierende Wahrheit.“
Und zum Schluß des Buches zieht er auf Seite 320 das Fazit seiner Überlegungen:
„Fassen wir zusammen: Ich möchte einen Unterschied machen zwischen der Solidarität als Identifikation mit der »Menschheit als solcher« und der Solidarität, die als Selbstzweifel während der letzten Jahrhunderte allmählich den Bewohnern demokratischer Staaten eingeimpft wurde – als Zweifel an der eigenen Sensibilität für die Schmerzen und Demütigungen anderer, Zweifel daran, daß gegenwärtige institutionalisierte Arrangements angemessen mit diesen Schmerzen und Demütigungen umgehen können, auch als Neugier auf mögliche Alternativen. Die Identifikation scheint mir unmöglich – eine philosophische Erfindung, ein unglücklicher Versuch, die Idee von der Einswerdung mit Gott zu säkularisieren. Der Selbstzweifel scheint mir das Charakteristikum der Epoche in der Geschichte, in der zum erstenmal Menschen in großer Zahl fähig sind, zwei Fragen voneinander zu trennen: die Frage »Glaubst und wünschst du, was ich glaube und wünsche?« und die Frage »Leidest du?« Nach meinem Sprachgebrauch ist das die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen der Frage, ob du und ich dasselbe Vokabular haben, und der anderen, ob du Schmerzen hast. Die Unterscheidung dieser Fragen macht es möglich, öffentliche von privaten Fragen zu unterscheiden, Fragen nach Schmerzen von Fragen nach dem Sinn des Lebens, die Domäne der Liberalen von der Domäne der Ironiker. Damit wird es möglich, daß ein einziger Mensch beides zugleich sein kann, Liberaler und Ironiker.“
Und in seinem Essay „Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie“ in dem Reclamheft „Solidarität oder Objektivität“ kommt er auf Seite 109ff über die Gestaltungsmöglichkeiten einer modernen Gesellschaft ohne verbindende Philosophie der „Wahrheitszauberei“ zu folgendem Schluß:
„Nach Dewey ist die gemeinschaftliche und öffentliche Entzauberung der Preis, den wir für die individuelle und private geistige Befreiung bezahlt haben, also die Art der Befreiung, die nach Emersons Auffassung für Amerika kennzeichnend ist. Dewey weiß ebensogut wie Weber, daß man dafür einen Preis bezahlen muß, doch er meint, es lohne sich. Er geht davon aus, keines der von früheren Gesellschaften erreichten Güter sei es wert, zurückerobert zu werden, wenn dies auf Kosten unserer Fähigkeit geschehe, die Menschen in Ruhe zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre privaten Vollkommenheitsträume in Frieden auszuprobieren. Er schätzt die amerikanische Gewohnheit, der Demokratie Vorrang einzuräumen vor der Philosophie, indem man im Hinblick auf jede Vorstellung vom Sinn des Lebens die Frage aufwirft: »Würde die Verwirklichung dieser Vorstellung die Fähigkeit anderer beeinträchtigen, etwas für die eigene Erlösung zu tun?« Daß man dieser Frage Vorrang gibt, ist nicht »natürlicher« als etwa die Bevorzugung von MacIntyres Fragestellung: »Was für Menschen kommen in der Kultur des Liberalismus zum Vorschein?«, oder Sandels Frage: »Kann eine Gemeinschaft derer, die der Gerechtigkeit den ersten Platz einräumen, mehr sein als eine Gemeinschaft von Fremden? « Jeder, der die Frage beantwortet, welche dieser Fragen Vorrang hat vor den anderen, begeht notwendig eine Petitio principii. Keiner verhält sich hier willkürlicher als sonst jemand. Das heißt aber, daß sich überhaupt keiner willkürlich verhält. Ein jeder besteht bloß darauf, die Überzeugungen und Wünsche, die er am höchsten schätzt, sollten in der Reihenfolge der Erörterung zuerst kommen. Das ist nicht Willkür, sondern Aufrichtigkeit. Vom Deweyschen Standpunkt aus liegt die Gefahr einer erneuten Verzauberung der Welt darin, daß sie die Entwicklung der von Rawls so genannten »gesellschaftlichen Vereinigung gesellschaftlicher Einheiten« stören könnte, wobei es sich um Einheiten handelt, die womöglich überaus klein sind (und es nach Emersons Auffassung auch sein sollten). Es fällt nämlich schwer, sich von einer Weltversion bezaubern zu lassen und sich zu allen anderen tolerant zu verhalten. Ich habe hier nicht versucht, das Problem auszudiskutieren, ob Dewey recht hat mit seinem Urteil über das Verhältnis von Gefahr und Verheißung, sondern nur geltend gemacht, daß ein solches Urteil eine Theorie des Ich weder voraussetzt noch untermauert. Ebensowenig habe ich versucht, mich mit der Prognose von Horkheimer und Adorno auseinanderzusetzen, wonach die in »Selbstzerstörung« begriffene Rationalität der Aufklärung schließlich zum Scheitern der liberalen Demokratien führen wird. Zu dieser Prognose habe ich nichts weiter zu sagen, als daß der Zusammenbruch der liberalen Demokratien als solcher kein überzeugender Beleg wäre für die Behauptung, menschliche Gesellschaften könnten nur dann überleben, wenn in ihnen weitgehende Einigkeit herrscht über Dinge von letzter, ausschlaggebender Bedeutung – wenn alle der gleichen Auffassung sind über unsere Stellung in der Welt und unseren Auftrag auf Erden. Mag sein, daß die Demokratien unter anderen Verhältnissen nicht überleben können, doch ihr letztlicher Zusammenbruch wäre als solcher noch kein Beweis dafür, daß es sich so verhält – wie er ja auch kein Beweis dafür wäre, daß menschliche Gesellschaften der Könige bedürfen oder einer etablierten Religion, bzw. dafür, daß keine politische Gemeinschaft außerhalb kleiner Stadtstaaten existieren kann. Jefferson wie Dewey haben Amerika als »Experiment« gekennzeichnet. Falls das Experiment fehlschlägt, kann es sein, daß unsere Nachkommen daraus etwas Wichtiges lernen. Aber eine philosophische Wahrheit werden sie damit ebensowenig lernen wie eine religiöse, sondern sie werden schlicht ein paar Hinweise erhalten, die zeigen, worauf sie bei der Gestaltung des nächsten Experiments achten müssen. Auch wenn vom Zeitalter der demokratischen Revolutionen nichts weiter überleben sollte, werden sich unsere Nachkommen vielleicht daran erinnern, daß es möglich ist, gesellschaftliche Institutionen nicht als Versuche der Verwirklichung einer allgemeinen, ahistorischen Ordnung zu sehen, sondern als Experimente der Zusammenarbeit. Es fällt schwer zu glauben, daß es sich nicht lohnen würde, eine solche Erinnerung zu haben.“
Und ich stimme ihm zu, es wäre auch meine Utopie von einer Gesellschaft, in der es sich zu leben lohnt. Albert Camus hat Ähnliches, aber als Schriftsteller und freilich hymnischer, in seinem Buch „L’homme révolté“ auf Seite 399 so ausgedrückt:
„Auf der Mittagshöhe des Denkens lehnt der Revoltierende so die Göttlichkeit ab, um die gemeinsamen Kämpfe und das gemeinsame Schicksal zu teilen. Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt. Dann erwacht die sonderbare Freude, die zu leben und zu sterben hilft und die auf später zu verschieben wir uns fortan weigern. Auf der schmerzensreichen Erde ist sie die bittere Nahrung, der raue Meerwind, das alte und das neue Morgenrot. Mit ihrer Hilfe werden wir während langer Kämpfe die Seele dieser Zeit erneuern und ein Europa, das nichts ausschließen wird: weder jenes Phantom, Nietzsche, den während zwölf Jahren nach seinem Zusammenbruch das Abendland besichtigte als das hingestreckte Abbild seines höchsten Bewußtseins und seines Nihilismus, noch jenen Propheten der lieblosen Gerechtigkeit, der durch einen Irrtum in der Abteilung für Ungläubige auf dem Friedhof von Highgate liegt (Karl Marx), ebenso wenig die vergöttlichte Mumie des Mannes der Tat in seinem gläsernen Sarg (W. I. Lenin) und nichts, was Europas Geist und Energie ohne Unterlaß dem Hochmut einer elenden Zeit geliefert hat. Alle können, in der Tat, wieder leben neben den Geopferten von 1905 (Petersburger Blutsonntag), unter der Bedingung, daß sie verstehen, sich gegenseitig zu verbessern, und daß eine Grenze, in der Sonne, sie alle einhält. Jeder sagt dem andern, er sei nicht Gott; da geht die Romantik zu Ende. In dieser Stunde, da jeder von uns seinen Bogen spannen muß, um seine Probe wieder abzulegen, mit und gegen die Geschichte zu erwerben, was er schon besitzt, die karge Ernte seiner Felder, die kurze Liebe dieser Erde, in dieser Stunde, da endlich ein Mensch ins Leben tritt, muß man die Epoche und ihre unreifen Rasereien sich selbst überlassen. Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannung erreicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und freieste Geschoß.“