Richard Rorty und der Pragmatismus

Evas Apfel

Furcht und Zittern (Dörner: „Evas Apfel“ in „Bauplan für eine Seele“), das uns angesichts des Bewußtseins des eigenen Todes und unserer Unbestimmtheit in einer unsicheren Welt packte und weswegen wir die Götter schufen, blieben auch nach der Aufklärung unser Los. Unser scheinbar unbestechlicher logischer Verstand hatte uns ein zweites Mal aus dem Paradies vertrieben; nun hatten wir uns selbst zu erschaffen, nun ja, nicht direkt uns selbst als Geschöpfe dieser Erde, denn wir existierten ja unzweifelhaft, sonst stünden wir nicht vor diesem Problem. Nein, wir standen vor der Aufgabe, eine symbolische Welt aus Worten, Sätzen und Bedeutungen parallel zu den materiellen Dingen um uns herum zu schaffen, die einen Sinn ergaben, für den es sich zu leben lohnt.

Unser Wille ist endlich frei (Dörner: „Das Gespräch der Seele mit sich selbst über sich selbst“ in „Bauplan für eine Seele“ ), aber ist er das wirklich? (siehe dazu auch den Blogbeitrag „Yourcenar über die Freiheit“). Schließlich haben wir Bedürfnisse, aus denen wir die Motive zum Handeln, zur Interaktion mit der Welt da draußen (der externen Welt) und der anderen (der gesellschaftlichen Wirklichkeit) beziehen. So ganz frei sind wir also nicht, wir können nicht auf die uns in unseren Genen gespeicherten Motive zum Handeln verzichten, damit wir handeln wollen um leben zu können. Dietrich Dörner hat diese Bedürfnisse, es sind nur fünf, im fünften Kapitel „Bedarf, Bedürfnisse und Motive“ in seinem Buch „Bauplan für eine Seele“ zusammengestellt.
  • Existenzerhaltung: dient der Aufrechterhaltung aller Körperfunktionen und äußert sich durch die Signale Hunger, Durst, Schmerz und ca. hundert weitere Signale.
  • Sexualität ist das Bedürfnis zur Fortpflanzung und zur Arterhaltung existentiell notwendig und dieses Bedürfnis wird durch Hormone und andere Steuersignale des Körpers veranlaßt, wie Dörner es in „Marschmusik für Mäuse“ (Dörner: „Moral“ aber auch in „Gefühle? Gefühle!“ in „Bauplan für eine Seele“) dargestellt hat.
  • Affiliation ist das Bedürfnis zur Bindung an andere, bzw. „Das Streben nach Legitimität“ (Dörner: „Moral“ in „Bauplan für eine Seele“) und ist verantwortlich für den sozialen Zusammenhalt, macht aus dem Einzelindividuum ein soziales Wesen und ist ganz wesentlich verantwortlich dafür, daß sich ein reflexives Bewußtsein herausgebildet hat.
  • Bestimmtheit: Das ist ein Bedürfnis nach der Fähigkeit möglichst viel vom Geschehen in der Umwelt vorauszusagen, übrigens auch nach Bestimmtheit der Innenwelt – ich muß mich selbst auch verstehen. Ihr und der Kompetenz hat Dörner ab Seite 351 in seinem „Bauplan für eine Seele“ eine ausführliche Abhandlung gewidmet.
  • Kompetenz: das Bedürfnis etwas zu bewirken, etwas zu machen, die Welt so verändern zu können, daß ich meine Bedürfnisse befriedigen kann.
Streben nach Bestimmtheit und nach Kompetenz, unsere kognitiven Bedürfnisse, führen nämlich beide zu Erkenntnissen, die uns über das Leben und seinen Sinn nachdenken lassen. Die anderen drei Bedürfnisse, wie Existenzsicherung, Sexualität und Bindungsbedürfnis befriedigen unsere emotionale Bedürfnisse und werden vom Bewusstsein einem sich kognitiv aus der Biografie ergebenden Wertesystem in ganz persönlicher Weise untergeordnet.
Wenn wir diese fünf Grundbedürfnisse erfüllen können, fühlen wir uns frei, alle durch diese Bedürfnisse veranlassten Motive zu handeln, bezeichnen wir als „von unserm freien Willen veranlasst“.
Wenn wir also alle in einer Gemeinschaft so zusammenleben könnten, dass jeder bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse den freien Willen des/der Anderen so wenig wie möglich einschränkt, sollte das nicht eine ideale Gesellschaft werden?
Aber die Welt, sei es nun die externe Welt der Dinge aber noch mehr die symbolische Welt unserer Kultur, ist ein komplexes dynamisches System, in dem man nicht handeln kann, ohne es zu verändern, denn wir sind ja Bestandteil dieses Systems. Und oft genug ändern wir seine Dynamik in eine unvorhersehbare, ungewollte Richtung, wie uns das Studium komplexer Systeme in Medizin, Natur-, Technik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften lehrte. Wir wandeln immer empfindliche Gleichgewichte in Natur und Gesellschaft, die zusammenbrechen und chaotisch unvoraussehbare Entwicklungen nach sich ziehen können. Gutes Meinen und bestes Wollen, das Handeln unter Berufung auf die Nächsten- und Wahrheitsliebe reichen dabei nicht aus.
Die Erforschung nichtlinearer komplexer Systeme rät uns zwar zu sensiblem Agieren und Reagieren in labilen und empfindlichen Gleichgewichtszuständen. Wer aber aus Angst vor Chaos im Nichtstun verharrt, wird von der Eigendynamik komplexer Systeme überrollt. Am Rande des Chaos ist zwar Sensibilität gefragt, aber auch Mut, Kraft und Kreativität zur Problemlösung.
Ich kann also nie handeln ohne in die Selbstbestimmung anderer einzugreifen. Kompromisse, pragmatisches Handeln sind gefragt – es gibt keine natürliche Wahrheit die zeitunabhängig, transindividuell oder transkulturell gilt, außer der Wahrheit, daß jeder in jedem Moment Bedürfnisse hat, deren Ziele sich immer wieder ändern und folglich im Moment nur selten mit denen der anderen übereinstimmen müssen. Nur eines ist gewiß, jeder wird von diesen fünf Bedürfnissen zum Handeln in dieser Welt gezwungen, wenn er leben will.
Wie könnte man unter diesen sensiblen Umständen pragmatisch handeln? Siehe dazu auch den Beitrag „Demut als Utopie“ in diesem Weblog, in dem auch Wolf Singer zum Schluss findet, dass es in komplexen dynamischen Systemen wie der „Gesellschaftlichen Wirklichkeit“ unmöglich ist, eine absolute Wahrheit, einen letzten Grund des Leben, des Universums und des ganzen Rests bzw. Gewissheit der Folgen unseres Tuns zu kennen oder gar zu berechnen, wie es für eine ontologische und metaphysische Sicht auf die Wirklichkeit, die grundsätzlich nur ein Bild dieser Wirklichkeit sein kann, notwendig wäre.
Sicherlich müssen wir in einer komplexen Evolution der Gesellschaft und des Miteinander die Nebenbedingungen genau studieren, unter denen gewünschte Entwicklungen in unserem Sinne und mit minimalen Risiken und Nebenwirkungen für uns und andere realisiert werden können. Nur können wir dazu nicht unseren Arzt oder Apotheker befragen, er weiß es im Allgemeinen auch nicht besser, wenn es sich nicht um sein Fachgebiet handelt. Und selbst dann verweist er uns auch nur auf den Beipackzettel, der uns selten großen Mut macht, das Mittelchen einzunehmen. Es ist oft genug der Mut der Verzweiflung und der fehlenden Alternative, der uns dann doch zu diesem oder jenem Mittel greifen läßt.

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