Die Ich-Illusion

Wer mit der Idee Dörners „Bauplan für eine Seele“ Probleme hat, weil sie ihm die hehre menschliche Seele durch Dörners technische Beschreibung dieses ungewissen, abstrakten Etwas, das er Seele nennt, in Form eines Konstruktionsplanes vermieste, dem wird sich hier geholfen.
Gazzaniga erklärt uns diesen „Konstruktionsplan“ auf andere Weise und kommt trotzdem zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Dörner darüber, was uns Menschen, unsere Seele bzw. unser ICH, im Unterschied zu Tieren ausmacht: die Fähigkeit über uns selbst als Abstraktum, als Illusion, nachdenken, uns gewissermaßen von außen, aus der Sicht eines anderen betrachten zu können.
Da unser Tun durch Naturgesetze determiniert wird – es besteht jedenfalls keine Notwendigkeit andere Erklärungsansätze für unser ICH oder das, was wir Seele nennen, vorauszusetzen – stehen wir vor der Frage, ob wir dann für unser Tun überhaupt moralisch oder strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können. Ja, wir sind verantwortlich dafür was wir tun, denn wir können zumindest zwischen den Möglichkeiten „Tu ich’s?“ oder „Tu ich’s nicht?“ entscheiden. In Wirklichkeit stehen uns jedoch immer wesentlich mehr mögliche Handlungsalternativen zur Verfügung – die Zukunft ist der offene Raum der Möglichkeiten, die wir heute ergreifen oder morgen auch verschmähen können – et vice versa!
Beiden, Dörner als auch Gazzaniga, geht es nicht darum, tatsächlich einen Menschen konstruieren und nachbauen zu können – dafür gibt es lustvollere Wege – es geht beiden einzig und alleine darum, naturwissenschaftlich zu erklären, wie wir auf Grund des Wirkens von Naturgesetzen „funktionieren“ und weshalb wir trotzdem nicht ohne Transzendenz auskommen können. So unsinnig die Frage nach dem Sinn des Lebens auch scheint, wir kommen von Zeit zu Zeit nicht ohne das sinnlose Grübeln darüber aus.
Albert Einstein sagt zum Sinn des Lebens:
Welches ist der Sinn unseres Lebens, welches der Sinn des Lebens aller Lebewesen überhaupt? Eine Antwort auf diese Frage wissen, heißt religiös sein. Du fragst: Hat es denn überhaupt einen Sinn, diese Frage zu stellen? Ich antworte: Wer sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen als sinnlos empfindet, der ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.
Aber das habe ich bereits im Blogbeitrag Vom „Sinn des Lebens“ ohne Aufhellung durchleuchtet, denn eine einfache oder überhaupt nur eine einzig richtige Antwort werden wir auf diese Frage, nachdem sie Albert Camus im „Mythos von Sisyphos“ in einer unsere Existenz bedrängende Weise gestellt hat, nicht finden – obwohl sie Fritz Mauthner im „Wörterbuch der Philosophie – Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ schon 1922 als im Wesentlichen sprachliches Problem entlarvt hat, denn
Die fragenden, lichthungernden Wahrheitssucher könnten schwerlich eine befriedigende Antwort darin finden, wenn man ihnen zuriefe: Ist ja nicht wahr, dass ihr durch Denken zu einem neuen Gefühle gelangen könnt! Ihr seid nach eurer Natur entweder froh oder unfroh, heute so und morgen so, grundlos froh oder grundlos unfroh. Einen Sinn hat euer Suchen noch weniger als »das Leben«.
Vielleicht aber doch, wenn man ihnen die Gegenfrage stellte: »Ihr habt die Sehnsucht und die Kraft, dort zu suchen, wo Hunderttausende wie Raupen behaglich auf ihrer Pflanze sitzen und kriechen und fressen und verdauen. Ist in dem leisen Schmerze dieser Sehnsucht und dieser Kraft nicht auch ein leises Glück verborgen? Und hat diese schmerzliche Lust des Suchens nicht Ewigkeit?«
 illusion
Zitate aus dem Buch von Gazzaniga
 
Einleitung
Wir alle spüren ein unstillbares Verlangen, mehr über uns als Menschen zu erfahren. Manchmal droht uns dieses Interesse zu überwältigen, weil wir bereits ziemlich viel über die physikalische Welt wissen. Und auch wenn wir uns mitunter schwertun, so akzeptieren doch die meisten von uns die Schlussfolgerungen aus einem rein wissenschaftlichen Blickwinkel auf die Situation, in der wir uns befinden. Doch ein unleugbares Faktum bleibt: Wir sind als Individuen für unsere Handlungen selbst verantwortlich, obwohl wir in einem kausal vorbestimmten Universum leben.
Wir Menschen sind große Tiere, so intelligent wir auch sein mögen, und wir missbrauchen unsere Geistesgaben nur zu oft. Und trotzdem fragen wir uns, ob das alles ist. Sind wir wirklich im Grunde nur ein etwas schlaueres Tier, das wie alle anderen nach Futter sucht? Sicher, wir sind um vieles komplexer als eine Biene. Obwohl auch wir unsere instinktiven Reaktionen haben, verfügen wir als Menschen doch über bewusste Wahrnehmungen und Ansichten aller Art. Unser Glaube überwindet im Zweifel alle biologischen Verhaltensweisen und automatischen Vorgänge, die sich im Laufe unserer Evolution herausgebildet haben. Sein Glaube – auch wenn es ein falscher war – trieb Othello zum Mord an seiner geliebten Frau und ließ Charles Dickens’ Sidney Carton, als er anstelle eines Freundes zur Guillotine ging, ausrufen, dies sei das Beste, was er je getan habe. Obwohl man sich schon ziemlich unbedeutend vorkommen kann, wenn man zu den Milliarden Sternen und Universen emporblickt, die uns umgeben, ist und bleibt der Mensch das Maß aller Dinge. Immer noch bewegt uns die Frage, ob wir nicht zu einem größeren Ganzen gehören. Sowohl die allgemein geteilte und mühsam errungene Weisheit der Naturwissenschaft als auch ein großer Teil der Philosophie sagt uns, dass das Leben keinen weiteren Sinn hat als denjenigen, den wir ihm geben. Wir begreifen uns als Autoren unseres Lebens, auch wenn der Zweifel bleibt, ob das wirklich alles ist.
Nun bezweifeln Naturwissenschaft und Philosophie jedoch, ob es wirklich an uns liegt, welchen Sinn wir dem Leben geben. Hier einige Einsichten in den Stand unserer modernen Kenntnis der Welt, ihrer Tatsachen und ihrer unangenehmen Folgerungen: Das Gehirn ermöglicht mit seinen physikalisch-chemischen Prozessen auf eine uns unbekannte Weise den menschlichen Geist. Dabei unterliegt es – wie alle Materie – den Naturgesetzen. Wenn man es recht bedenkt, ist es auch nur gut so. Wir würden beispielsweise nicht wollen, dass Bewegungsbefehle, wie etwa eine Hand an den Mund zu führen, in zufällige Handlungen umgesetzt werden – wir möchten uns die Eiscreme ja in den Mund schieben und nicht an die Stirn kleben. Es gibt allerdings Stimmen, die behaupten, aus der Tatsache, dass unser Gehirn den Naturgesetzen unterliegt, folge, dass wir alle im Wesentlichen Zombies ohne eigenen Willen seien. Die Wissenschaft geht davon aus, dass wir erst dann Wissen darüber erlangen, wer und was wir sind, nachdem das Nervensystem bereits gehandelt hat. Allerdings sind die meisten von uns so mit ihrem Alltagsleben beschäftigt, dass sie sich nicht die Zeit nehmen, über diese Behauptungen nachzudenken oder sich von ihnen beunruhigen zu lassen. Und nur sehr wenige verfallen darüber in existenzielle Zweifel. Wir wollen unsere Arbeit erledigen, nach Hause zu Frau oder Mann und Kind fahren, pokern, tratschen, einen Whiskey nehmen, fröhlich sein und einfach leben. Den Großteil unserer Zeit über ignorieren wir die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wir wollen das Leben leben, nicht darüber grübeln.
Dennoch ist es die vorherrschende Meinung in der Wissenschaft, dass wir in einem vollständig kausal verursachten Universum leben. Diese Annahme scheint logisch aus all dem zu folgen, was wir bis jetzt über das Wesen des Universums herausgefunden haben. Die Geschehnisse in der Welt der Tatsachen werden von Naturgesetzen bestimmt. Wir sind Teil der physischen Welt, und daher beherrschen die Naturgesetze unser Verhalten und sogar unser Bewusstsein. Dieser Determinismus gilt sowohl physikalisch als auch in Gesellschaft mit anderen, und demgemäß sollten wir ihn akzeptieren. Einstein und Spinoza etwa haben ihn akzeptiert. Wer also sind wir, ihn in Frage zu stellen? Ausgangsannahmen haben Folgen, und so wird uns zunehmend nahegelegt, mit Schuldzuweisungen an andere Menschen vorsichtig zu sein. Es heißt, wir lebten in einer determinierten Welt und da sollten wir besser vorsichtig damit sein, andere für ihre Handlungen oder anti-soziales Verhalten verantwortlich zu machen.
Quantenphysiker haben vorgebracht, dass es da durchaus Spielraum gebe, weil die Quantenmechanik die Newton’sche Konzeption von Materie ersetzt hat. Auf der atomaren und molekularen Ebene stößt man nämlich auf Unbestimmtheit, und das heißt, dass man das nächste Mal beim Nachtisch tatsächlich die freie Wahl hat zwischen dem Sahnetörtchen und dem Stück Himbeerkuchen. Solche Entscheidungen sind nicht schon seit dem Urknall festgelegt.
Andererseits ist argumentiert worden, dass die Unbestimmtheit auf der Quantenebene für die Funktion des Nervensystems und des von ihm hervorgebrachten menschlichen Bewusstseins irrelevant sei. Die Neurowissenschaft geht heute allgemein davon aus, dass wir erkennen werden, wie das Gehirn den Geist hervorbringt, wenn wir nur erst seine Funktionsweise vollständig verstehen. Viele Neurowissenschaftler nehmen an, dass der Geist in einer aufwärtsgerichteten Kausalkette entsteht und dass alles festgelegt ist.
Es scheint eine menschliche Eigenart zu sein, eindeutige Antworten auf jede Frage zu suchen – Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, alles oder nichts, absolute Determiniertheit oder völlige Zufälligkeit. Ich werde im Folgenden zeigen, dass es nicht so einfach ist und dass das Konzept der modernen Neurowissenschaft keineswegs aus einem deterministischen Fundamentalismus besteht. Vielmehr vertrete ich die Ansicht, dass Bewusstsein und Geist, die von physikalischen Prozessen im Gehirn auf eine spezifische Weise hervorgebracht werden, ihrerseits dieses Gehirn bestimmen. Genau wie politische Regeln vom Volk eingerichtet werden und es kontrollieren, wird auch das Gehirn vom Geist bestimmt, den es selbst hervorbringt. Muss die heute allgemein anerkannte Auffassung von der Kausalität als einziger Methode zum Verständnis der physikalischen Welt nicht um eine neue Denkweise ergänzt werden? Ist es nicht ratsam, die Wechselwirkung und gegenseitige Abhängigkeit von Gegenständlichem und Geistigem zu erfassen? Professor John Doyle vom Caltech weist darauf hin, dass Hardware und Software eines Computers nur durch ihre Wechselwirkungen miteinander funktional werden, es bis jetzt aber niemandem gelungen ist, diese Realität zu beschreiben. Wenn das Bewusstsein aus dem Gehirn entsteht, ist das ein dem Urknall vergleichbarer Vorgang. Der Straßenverkehr entsteht aus einzelnen Fahrzeugen und schränkt zugleich unser Fahrverhalten ein. Begrenzt der Geist nicht ebenso das Gehirn, das ihn hervorbringt?
Dieses Problem taucht ebenso hartnäckig immer wieder auf wie ein Korken, den man unter Wasser drückt. Wer sich dazu äußert, wie sich der Geist zum Gehirn verhält und was das für die individuelle Verantwortlichkeit des Menschen bedeutet, kann sich der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss sein. Die Suche nach der Antwort auf diese Frage, die für unser Selbstverständnis als fühlende, planende und sinnsuchende Wesen essenziell ist, kann man gar nicht wichtig genug nehmen. Ich möchte einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten, der dieses grundlegende Problem beleuchtet und meine Sicht auf jene Fortschritte beschreibt, die beim Verständnis der Wechselwirkung zwischen Geist und Gehirn erzielt worden sind. Bestimmt also der Geist das Gehirn oder arbeitet das Gehirn gleichsam von unten nach oben? Das ist keine einfache Frage – und an keiner Stelle schlage ich im Folgenden vor, der Geist sei vom Gehirn völlig unabhängig. Er ist es keineswegs.
Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, sollten wir uns zunächst darüber klar werden, als was für eine Art Lebewesen wir uns heute im 21. Jahrhundert eigentlich verstehen. Während der letzten 100 Jahre ist ein enormer, geradezu einschüchternder Wissenzuwachs zu der Frage festzustellen, wie wir funktionieren. Die Frage ist, ob frühere Konzeptionen des Wesens der menschlichen Existenz dadurch obsolet geworden sind.
Ich habe mich in diesem Buch verpflichtet gefühlt, zunächst das heute verfügbare Wissen darzustellen, das vielen der großen Denker der Vergangenheit noch unbekannt war. Keine der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über die Mechanismen des Denkens und des Geistes betrifft allerdings die Frage der Verantwortlichkeit – einen der Grundwerte des Menschen. Zur Untermauerung dieser Behauptung werde ich hier den Weg – und auch einige der Umwege – schildern, der uns auf unseren heutigen Wissensstand gebracht hat, und darstellen, was wir gegenwärtig über die Funktion des Gehirns wissen. Für ein besseres Verständnis einiger Antwortversuche darauf, was aus einer deterministischen Weltsicht folgt, wenden wir uns dann auch anderen Fachgebieten zu. Dabei gehen wir von der Mikrowelt der subatomaren Teilchen, an die Sie im Zusammenhang mit Neurowissenschaft wahrscheinlich bisher nicht gedacht haben, bis zur Makrowelt des menschlichen Zusammenlebens und damit zu Ihnen und Ihrem Kumpel, mit dem Sie vor dem Fernseher sitzen und das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft verfolgen. Diese Erkundungen werden uns zeigen, dass die Naturgesetze in den verschiedenen Größenordnungen der gegenständlichen Welt differieren, und wir werden sehen, was das für das menschliche Verhalten bedeutet. Am Schluss landen wir, ausgerechnet, vor Gericht.
Trotz all unseres Wissens über Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und so weiter gibt es doch eine unleugbare Realität: Wenn man die beweglichen Elemente als Teile eines dynamischen Systems betrachtet, dann bleibt es dabei, dass wir für unsere Handlungen verantwortlich sind. Wie meine Kinder sagen: »Komm drüber weg.« Das menschliche Leben ist eigentlich eine tolle Sache.
 
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 8
Kapitel 1: Wie wir sind 12
Die Entwicklung des Gehirns 15
Das unbeschriebene Blatt 15
»Blaupausen« der Gehirnentwicklung 17
Erfahrung und die Grenzen der Lernfähigkeit 20
Selektion oder Instruktion 21
Aktivitätsabhängige Prozesse 23
Instinkt und Komplexität 24
Der Weg zum Homo sapiens 27
Der aufrechte Gang und die Evolutionsbiologie 27
Holloway gegen die These vom großen Gehirn 29
Physische Unterschiede im menschlichen Gehirn 32
Größer ist nicht die Antwort auf besser 32
Konnektivität ist dynamisch 34
Verschiedene Neuronenarten 37
Wir haben nicht alle den gleichen Schaltplan 40
Kapitel 2: Das Gehirn – ein Parallelrechner 43
Lokalisierte Gehirnfunktionen? 44
Das große Reich des Unbewussten 46
Unterstützung durch Patienten 47
Funktion und Modul 48
Linkes Hirn, rechtes Hirn 50
Doppeltes Bewusstsein? 56
Was ist Bewusstsein? 57
Die Theorie vom gespaltenen Gehirn dankt ab 59
Wie unsere Gehirne funktionieren 63
Das Gehirn – ein Tätigkeitsprofil 65
Wer ist der Chef in unseren Köpfen? 66
Komplexe Systeme 66
Kapitel 3: Der Interpret 69
Der lange Weg zum Bewusstsein 69
Der Eisberg des Unbewussten 71
Die Ich-Illusion 74
Kasinospiele: Mensch gegen Ratte 76
Die Arbeit des Interpreten 77
Du bist nur so gut wie dein Input 81
Der Interpret wird ausgetrickst 86
Ich traue meinen Augen nicht! 89
Der Interpret weiß sich zu helfen 90
Was bedeutet das fürs große Ganze? 92
Kapitel 4: Jenseits des freien Willens 95
Newtons universale Gesetze und mein Haus 98
Determinismus 100
Immer zu spät 101
Physik und Voraussagbarkeit 105
Chaostheorie 105
Die Quantenmechanik sticht in ein Wespennest 109
Emergenz 111
Immer zu spät und immer zu wenig: Bewusstsein 115
Gefangen in Kausalketten 116
Das Langustenproblem 117
Tango bleibt Tango 119
Wie man einen Neurowissenschaftler ärgert 122
Keine Kausalität von oben nach unten 125
Kapitel 5: Der soziale Geist 128
Sozial geboren 129
Die Sicherheit der Vielen 130
Tango tanzt man zu zweit 131
Große Gehirne, Konkurrenz und Kooperation 132
Je größer die Gruppe, desto größer das Gehirn 133
Verlorene Wanderslust 134
Flügge werden 135
Koevolution? 136
Flexibel ohne Yoga 137
Sogar Affen haben Polizisten 139
Die Zähmung des Wilden 140
Durch und durch sozial 141
Ich weiß, dass du weißt, dass ich glaube, dass … 142
Spiegelneuronen 143
Die Gefühle anderer 144
Mimikry: Unbewusste Nachahmung 145
Angeborene Moral 147
Moralische Intuitionen 148
Das gute alte Straßenbahndilemma 150
Moralische Urteile und Gefühle 152
Moral und der Interpret 153
Universelle Moralmodule 154
Werte sind nicht universell 155
Die Überzeugungen der rechten Hirnhälfte 155
Selbstsüchtiges und soziales Verhalten 157
Kapitel 6: Wir sind das Gesetz 160
Kultur und Gene 163
Wer war’s, ich oder mein Gehirn? 166
Kleine Schritte: Neurowissenschaft im Gerichtssaal 167
Von der Wissenschaft geblendet 169
Verantwortlichkeit und Verantwortung 170
Die fragwürdige Beweiskraft von Gehirnscans 174
Ein Einheitsgehirn für alle? 174
Noch ist die Zeit nicht reif 177
Täter sein, bevor man es weiß 178
Gedankenlesen 179
Befangen im Gerichtssaal 181
Schuldig: Muss Strafe sein? 183
Geborene Richter 186
Neurobiologie des Urteilens und Strafens 187
Nichts Neues unter der Sonne 189
Kann eine zivilisierte Gesellschaft bestrafen? 190
Wir haben die freie Wahl 192
Kapitel 7: Nachwort 193
Dank 197
Anmerkungen 199

.

Wir haben die freie Wahl

Ich behaupte nun, dass Verantwortlichkeit letztlich ein Vertrag zwischen zwei Menschen und nicht eine Eigenschaft des Gehirns ist. In diesem Zusammenhang ist die Frage des Determinismus bedeutungslos. Das Wesen des Menschen verändert sich nicht, aber unsere soziale Umwelt kann sich mitsamt unseres Verhaltens sehr wohl ändern. Man kann seine unbewussten Absichten zügeln. Ich werfe ja nicht gleich mit dem Messer nach Ihnen, nur weil Sie von meinem Keks abbeißen. Das Verhalten eines Menschen kann das eines anderen beeinflussen. Wenn ich die Autobahnpolizei im Rückspiegel sehe, schaue ich auf den Tachometer und nehme den Fuß vom Gas. Wie ich im vorigen Kapitel ausgeführt habe, kommt es darauf an, dass wir das Gesamtbild sehen: ein Gehirn inmitten anderer Gehirne und in steter Wechselwirkung mit ihnen, nicht nur ein einzelnes isoliertes Gehirn.
Allerdings sind die meisten Menschen, in welchem Geisteszustand auch immer sie sich befinden, imstande, Regeln zu befolgen. Auch Kriminelle können das. Wenn etwa ein Polizist danebensteht, unterlassen sie ihr Verbrechen lieber. Sie können ihre Absichten erkennen und zügeln, wenn die Streife vorbeifährt, und treffen damit eine Wahl, die auf ihrer Erfahrung beruht. Das ist es, was uns zu verantwortlich Handelnden oder eben zu verantwortungslosen Menschen macht.
 
 
KAPITEL 7
NACHWORT
Vor einigen Jahren sah ich eine fesselnde BBC-Fernsehdokumentation, die eine einfache Geschichte erzählte. Ein erfahrener BBC-Journalist wollte bei einem Aufenthalt in Indien einen einheimischen Freund besuchen. Der Film zeigte, wie Kameramann und Reporter in einem Slumviertel durch abschüssige Straßen voller Dreck und Exkremente zur zweieinhalb mal drei Meter großen Hütte des Freundes stapften. Da stand er und strahlte, als er seinen Kumpel aus Großbritannien wiedersah. Wie sich herausstellte, war die Unterkunft, in der er mit seiner Frau und zwei Kindern lebte, auch noch seine Werkstatt und das Ladenlokal. Er verkaufte Kindersportschuhe, diese Sorte mit eingebautem Blinklicht. Irgendwie kamen sie alle in dieser winzigen Behausung zurecht, und während der Kameramann schon zum Aufbruch drängte, weil er den Gestank nicht ertrug, händigte der Inder seinem englischen Freund würdevoll ein Paar Schuhe für dessen Kinder aus. All das fand nach westlichen Maßstäben unter den Bedingungen erbärmlichsten Elends statt, aber Tausch und Gabe zwischen Menschen, menschliches Miteinander überwanden und überstiegen alles – einer von jenen Augenblicken, die uns zu dem machen, wer wir sind. Hierin liegt die Erhabenheit des »Menschlichen«, die wir alle schätzen und lieben und die wir uns von der Naturwissenschaft nicht nehmen lassen wollen. Wir möchten unseren eigenen Wert und den unserer Mitmenschen spüren.
Ich habe zu zeigen versucht, dass eine bessere wissenschaftliche Erkenntnis der Natur, des Lebens und des Gehirns/Geistes diesen Wert, der uns allen lieb und teuer ist, keineswegs erodieren lässt. Wir sind Menschen, Personen, keine Gehirne. Wir sind jene Abstraktion, die entsteht, wenn der emergente Geist mit dem Gehirn in Wechselwirkung tritt. Wir existieren durch und mit dieser Abstraktion. In Anbetracht einer Wissenschaft, die ständig an ihr zu rühren scheint, suchen wir verzweifelt nach Worten, um unser wahres Wesen zu beschreiben. Aber natürlich sterben wir gleichzeitig fast vor Neugier, zu erfahren, wie all das wirklich funktioniert. Der deterministische Standpunkt der Naturwissenschaft scheint uns zu einer prosaischen Sichtweise zu drängen. Wie schön man es auch umschreibt und ausmalt, letztendlich sind wir nur eine Art Maschinen, die als automatische und geistlose Vehikel physikalisch determinierter Kräfte des Universums funktionieren, Kräfte, die stärker sind als wir. Aus diesem Blickwinkel trägt oder besitzt keiner von uns einen Wert in sich. Wir alle sind bloß Schachfiguren.
Der gewöhnliche Ausweg aus diesem Dilemma ist, es schlicht zu ignorieren und stattdessen etwas über die Herrlichkeit des Lebens auf phänomenologischer Ebene, die Schönheit des Yosemite-Nationalparks, den Spaß am Sex und die Freude an den Enkelkindern zu sagen und sich mit ihnen prosaisch davontragen zu lassen. Wir können das, weil wir dazu veranlagt sind, diese Dinge zu genießen. So funktionieren wir, und das ist alles. Nehmen Sie sich noch einen trockenen Martini, legen Sie die Füße hoch und lesen Sie ein gutes Buch.
Ich habe hier versucht, eine andere Perspektive auf dieses Dilemma anzubieten. Meiner Ansicht nach wirken alle unsere Lebenserfahrungen, persönliche wie gesellschaftliche, auf unser emergentes mentales System ein. Diese Erfahrungen sind stark und wirkmächtig und sie formen unseren Geist. Sie steuern unser Gehirn nicht nur, sondern enthüllen auch, dass es die Wechselwirkung verschiedener Ebenen von Gehirn und Geist ist, die unser Bewusstsein schafft, und damit unser gegenwärtiges Erleben. Es ist die Aufgabe der modernen Neurowissenschaften, das Gehirn zu entmystifizieren. Dazu müssen wir uns zunächst darüber klar werden, wie die Regeln und Algorithmen, denen die getrennten und verteilten Module unterliegen, zusammenwirken, um letztlich die Bedingungen unseres Menschseins hervorzubringen.
Es ist ermutigend und aufschlussreich, wenn man versteht, dass das Gehirn automatisch funktioniert und den Naturgesetzen unterliegt. Ermutigend, weil wir uns darauf verlassen können, dass unser Entscheidungsorgan, das Gehirn, eine zuverlässige Struktur hat, die für die Umsetzung der Entscheidungen sorgt. Aufschlussreich und entlarvend, weil daraus folgt, dass die Frage des freien Willens auf einer missverständlichen Vorstellung beruht, die von sozialen und psychologischen Annahmen herrührt. Diese missverständliche Vorstellung hat zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gegolten. Jedoch hat sie sich nicht bewährt und steht daher heute im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft über das Wesen des Universums. John Doyle hat es mir gegenüber so formuliert:
Irgendwie haben wir uns daran gewöhnt, dass es in einem System, das kohärentes und integriertes Verhalten zeigt, eine »essenzielle« und vor allem zentrale oder zentralisierte Kontrollinstanz geben müsse, die verantwortlich ist. Wir sind zutiefst essenzialistisch, und unsere linke Hirnhälfte will diese Instanz finden. Und wie Sie richtig sagen: Wenn wir nichts finden, erfinden wir etwas. Wir nennen es einen Homonculus, den Geist, die Seele, die Gene und so weiter. … Aber im üblichen reduktionistischen Sinn ist es kaum vorhanden. … Das heißt nicht, dass es keine verantwortliche »Essenz« gebe, sie ist nur verteilt. Sie liegt in den Abläufen, den Regeln, den Algorithmen, der Software. So funktionieren Zellen, Ameisenhügel, Computernetzwerke, Armeen und Gehirne wirklich. Es ist für uns schwer zu verstehen, dass die Essenz nicht irgendwo in einem Kästchen zu finden ist, aber das wäre sogar ein Konstruktionsfehler, denn wenn das Kästchen kaputtginge, fiele das ganze System aus. Es ist also sehr wichtig, dass die Essenz nicht in den Modulen, sondern in den Regeln liegt, nach denen sie funktionieren. [Hervorhebung durch mich]
Ich habe festgestellt, dass sich auch meine eigene Perspektive verändert hat. Das hat ein Leben als Naturwissenschaftler so an sich. Die Fakten ändern sich nicht. Was sich aber ändert, besonders in stark interpretativ geprägten Naturwissenschaften wie der Neurowissenschaft und der Psychologie, sind die Vorstellungen, wie wir die sich ständig vermehrenden Erkenntnisse über Mutter Natur einordnen sollen. Jeder Forscher stellt sich tagtäglich immer wieder dieselbe Frage: Erfasse ich mit meiner Theorie, warum dies und jenes so ist, wie es wirklich funktioniert? Niemand weiß mehr über die Schwächen einer Theorie als ihr Urheber, und deswegen ist man immer auf der Hut. Das ist wahrlich kein sehr angenehmer Zustand, und einmal fragte ich Leon Festinger, einen der klügsten Menschen überhaupt, ob er sich je unfähig fühle. Er erwiderte: »Natürlich! Das macht einen ja erst fähig.«
Als ich das Material für dieses Buch durchgegangen bin, wurde mir klar, dass es im Grunde einer eigenen Sprache bedarf, die noch entwickelt werden müsste, um zu beschreiben, was eigentlich geschieht, wenn geistige Prozesse das Gehirn steuern und umgekehrt. Die Hirnaktivität findet am Übergang zwischen diesen beiden Ebenen statt. Man könnte es so formulieren, dass hier absteigende Kausalität auf aufsteigende Kausalität trifft. Oder man könnte sagen, dass Hirnaktivität nicht »dort« oder überhaupt irgendwo im Gehirn stattfindet, sondern im Raum zwischen miteinander wechselwirkenden Gehirnen. Die Antwort auf unsere Frage nach dem Verhältnis zwischen Gehirn und Geist liegt in den Schnittstellen der unterschiedlichen, hierarchisch organisierten Ebenen unserer Existenz. Wie sollen wir das beschreiben? Das emergente Bewusstsein hat seinen eigenen Zeitstrahl, seine Wirklichkeit und Verantwortlichkeit. Diese großartige Abstraktion macht uns zu verantwortlichen Wesen. Dass das Gehirn all das erledigt, bevor wir uns dessen bewusst werden, wird aus dem Blickwinkel einer anderen operativen Ebene bedeutungslos. Für diese Wechselwirkungen unterschiedlicher Organisationsebenen des Bewusstseins ein Vokabular zu entwickeln, darin sehe ich die dringlichste naturwissenschaftliche Fragestellung unseres Jahrhunderts.

 Die große Ich-Illusion

 
 

 

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