Julia Shaw: Meine Version der Wahrheit

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Erinnerungen gelten allgemein als authentisch, besonders auch als Zeugenaussagen vor Gericht. Forscher konnten nun nachweisen, dass sich dem Gedächtnis Erinnerungen von Ereignissen einpflanzen lassen, die nie stattgefunden haben. Wie genau entstehen falsche Erinnerungen und wie lassen sie sich von den wahrhaftigen unterscheiden?

Zitat aus dem Buch von Julia Shaw
DAS TRÜGERISCHE GEDÄCHTNIS, Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht
Aus dem Englischen von Christa Broermann, Carl Hanser Verlag, 2016

Nachdem uns Julia Shaw  in ihrem Buch DAS TRÜGERISCHE GEDÄCHTNIS an Beispielen und mit Experimenten bewiesen hat, wie unzuverlässig unser Gedächtnis funktioniert, ja wir uns sogar an Geschichten als unbezweifelbar wahr erinnern, die nie geschehen sind, macht sie in diesem Kapitel deutlich, dass dies in vielen Fällen auch eine Voraussetzung dafür sein kann, dass wir uns mit unserer Vergangenheit – also mit unserem bisher gelebten und erfahrenen Leben – glücklich fühlen können.

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Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

Aus dem Vorwort zu
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken:
Kommentar zu Nietzsches „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

von
Sarah Scheibenberger

Eine philosophische Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) zu unternehmen heißt, sich mit einer der – ungeachtet ihrer Kürze – wichtigsten und reichsten Schriften zu konfrontieren, die Nietzsche der abendländischen Philosophie hinterlassen hat. Weiterlesen

Richard Rorty und der Pragmatismus

Nun, da Gott tot ist (Nietzsche), wir uns vom Aberglauben der Fremdbestimmung, aber auch der Sinngebung durch Götter oder andere höhere Wesen in der Epoche der Aufklärung durch die Logik wissenschaftlichen Denkens befreit hatten, stehen wir vor der noch immer unbeantworteten Frage des Beitrages „Albert Camus und das Absurde“: Was ist denn nun der Sinn unseres Lebens, wozu sind wir auf der Welt? Die christliche Religion, die, von griechischer Philosophie und Judentum befruchtet, im vorderen Orient ihren Ursprung hatte und sich bald über ganz Europa ausbreitete, gab uns die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, je nachdem, wie wir den Geboten dieser Religion gerecht wurden, entweder ewig im „Himmel“ oder ewig in der „Hölle“ – wie auch immer, es heißt dort, daß wir unsterblich seien.

Furcht und Zittern
(Dörner: „Evas Apfel“ in „Bauplan für eine Seele“), das uns angesichts des Bewußtseins des eigenen Todes und unserer Unbestimmtheit in einer unsicheren Welt packte und weswegen wir die Götter schufen, blieben auch nach der Aufklärung unser Los. Unser scheinbar unbestechlicher logischer Verstand hatte uns ein zweites Mal aus dem Paradies vertrieben; nun hatten wir uns selbst zu erschaffen, nun ja, nicht direkt uns selbst als Geschöpfe dieser Erde, denn wir existierten ja unzweifelhaft, sonst stünden wir nicht vor diesem Problem. Nein, wir standen vor der Aufgabe, eine symbolische Welt aus Worten, Sätzen und Bedeutungen parallel zu den materiellen Dingen um uns herum zu schaffen, die einen Sinn ergaben, für den es sich zu leben lohnt.

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Albert Camus und das Absurde

Wir, die sich dank ihrer Vernunft für aufgeklärt haltenden Menschen, sind uns der Tatsache bewusst geworden, dass unserem Leben kein Wert oder „Sinn“ immanent ist, es sei denn wir selbst geben ihm einen. Die Erkenntnisse aus den Prinzipien der Evolution lehren uns nur eines: „Alles geschieht – das ist die ganze Wahrheit!“ [Robert Musil in „Die Verwirrungen des Zöglings Törles“]. Doch mit dieser Erkenntnis unseres logischen Verstandes können wir nicht leben, ein solcherart sinnloses Leben schreit nach Selbstmord oder ruft auf zur Revolte, zur Auflehnung gegen die schicksalhafte Ergebenheit in die Logik unseres Verstandes.  Das unabwendbare Bedürfnis nach Gesellung (Affiliation – Definition dieses Begriffes durch Dietrich Dörner in den Blogbeiträgen „PSI oder Bauplan für eine Seele“ und „Was ist Moral?“), das sich im Verlauf unserer Evolution herausgebildet hat, weist uns den Weg aus unserem Dilemma und zwingt uns zur Sinnsuche durch das und in dem Leben mit der Gemeinschaft der auf sich selbst Zurückgeworfenen, ruft zum Aufrütteln der einsamen Masse aus deren Betäubung durch den nihilistisch begründeten Hedonismus bei de Sade bzw. durch die lieblose Logik des Verstandes bei Kant, deren beider Sinnfindung als logisch mögliche Folgerung aus den Ideen der Aufklärung betrachtet werden können.

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Badewut im 15. Jahrhundert

Als Ergänzung des Blogbeitrages „Was ist Moral“ seien die seit jeher willkürlich und unvorhersehbar wechselnden Moden und Sitten der Menschen an einem Beispiel aus der Geschichte veranschaulicht,  dazu bereitet uns das 15. Jahrhundert eine merkwürdige Überraschung: Die Badewut bricht aus. Ganz Deutschland bringt die Hälfte seiner Tage in Bottichen und Bassins zu. Man scheint das Gefühl zu haben, dass das Wasser zumindest vor einem schütze: vor Verbrennen. Das stimmt. Vor anderem wiederum schützt es nicht, im Gegenteil, kaum eine Meer-Jungfrau bleibt mehr Jungfrau. Ein kurzer Ausschnitt aus dem DEFA-FIlm „Till Eulenspiegel“ kann uns das muntere Treiben in einem solchen Badehaus veranschaulichen:

Die Aufforderung „Wir gehen heute ins Badehaus“ bedeutet damals etwa das gleiche, als würde man heute sagen: Treffen wir uns doch morgen im Café Kranzler oder in der Disco.

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Gleich heut, gemein Schuft und exzessive Uneigennützigkeit

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Bildnis Walter Serners von Christian Schad

Gleichheit ist Ausdruck einer selbstverständlichen Demut. Wenn wir in einem Stau stehen, wo keiner mehr weiterkommt, erleben wir zuweilen unerwartete und beglückende Dinge. Da werden Decken ausgeliehen, Getränke geteilt, Erfahrungen ausgetauscht, entnervte Kinder von anderen getröstet. Warum? Weil wir schlagartig kapieren, dass wir alle gleich sind, dass es keine Rolle spielt, ob ich mit einem Porsche oder dem kleinsten Fiat im Stau stehe.

Gemeinschaft ist jedoch auch von großer Bedeutung für unser Zeiterleben. »Erst im Miteinander«, sagt der Hirnforscher Ernst Pöppel, »stellt der Mensch Gegenwart her, im Gespräch, beim gemeinsamen Feiern. Das gerät bei unserer auf Effizienz gepolten Zeit leicht aus dem Blick.« Gemeinschaft macht Lust aufs Geben, sogar aufs Verzichten, wenn Selbstlosigkeit als Glück empfunden wird; wen sie quält, der macht etwas falsch. Die Hausfrau, die, wenn ihr nach dem Essen die Tischgesellschaft dankt, seufzt, das sei schließlich ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, fühlt sich als Opfer. Und die Opferrolle ist keine, die beglückt. »Die hauptsächlichste Gefahr der Ehe«, hat der eleganteste aller Zyniker, Oscar Wilde, gesagt, »liegt darin, dass man selbstlos wird. Selbstlose Leute sind farblos.«
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Und ein nachgeborener Geistesverwandter, der Schriftsteller Walter Serner, erklärte:
»Exzessive Uneigennützigkeit wirkt demoralisierend.« Vielleicht hatte er die Geschichte von Herrn Bermann vor Augen, der beim Begräbnis seiner Frau heftig weint. Aber Herr Knipis, seit Jahren Untermieter der Bermanns, weint noch heftiger. Schließlich hält der Witwer das Wehklagen von Knipis nicht mehr aus. Er legt den Arm um die Schultern des Schluchzenden. »Knipis, nehmen Sie’s doch nicht so schwer. Ich werde bestimmt wieder heiraten.«
aus Dr. med. Wilhelm Schmid-Bode
Maß und Zeit –
Entdecken Sie die neue Kraft der klösterlichen Werte und Rituale
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siehe auch meinen Blogbeitrag: Über Eitelkeit, Altruismus und Nächstenliebe.
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Das Leben ist kurz, und wir finden nie genug Zeit, unsere Weggenossen zu schikanieren. [Walter Serner]
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Yourcenar über geistige Einsicht

thomas-carlyle»Jede geistige Einsicht[1] stützt sich auf willkürliche Fundamente; Jede Lehre, die sich bei den Massen durchsetzt, muß der menschlichen Dummheit Vorschub leisten: es käme auf das gleiche heraus, wenn Sokrates morgen zufällig den Platz von Mohammed oder von Christus einnähme. Aber wenn dem so ist, warum auf das leibliche Wohl und auf die Wonnen der Übereinstimmung verzichten? Es dünkt mich, als hätte ich all das schon seit Jahrhunderten erwogen und nochmals erwogen. …
Jeder von uns ist sein einziger Lehrer und sein einziger Jünger. Die Erfahrung fängt jedesmal wieder bei Null an. «
Zitat aus dem Roman „Die schwarze Flamme“ von Marguerite Yourcenar.
So wie Marguerite Yourcenar mit diesem Zitat kann man die Essenz des Beitrages „Bielefeld gibt es nicht”, auch in Knappe Worte fassen, der mit dem weisen Satz endete:

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Bielefeld gibt es nicht

bielefeld gibt es nicht
oder Variationen über das Thema
 
Nicht die Dinge an sich bewegen uns, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben.
 
Von Dietrich Dörner haben wir aus dem Blogbeitrag „Bauplan für eine Seele“ und den darauf folgenden Beiträgen zum gleichen Thema lernen können, dass die Motive, die einen Menschen zum Handeln in und somit zur Wechselwirkung mit seiner Umgebung veranlassen, von seinen fünf Grundbedürfnissen veranlasst werden, als da sind: Existenzerhaltung, Sex, Gesellung, Bestimmtheit und Kompetenz. Ich verweise zur Definition dieser Begriffe auf den verlinkten Blogbeitrag, da ich darauf im Folgenden aufbauen will.
Diese fünf Grundbedürfnisse begründen zwar die Welt der Gefühle und Gedanken des Menschen, sind Grundlage jeder menschlichen Aktivität, ja der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit, doch definieren sie weder eindeutig bestimmte Ziele noch Ursachen seiner tatsächlichen Handlungen in einer konkreten Situation. Diese biologisch fundierten Motive bilden aber den emotionalen Hintergrund, der dann im konkreten Handlungsprozess definiert, d.h. mit Bedeutungen ausgestattet wird, nämlich dann, wenn Akteure sozial anerkannte Werte schaffen und „subjektive Wertungen“ formulieren. Wie im Gefolge einer sozialen Wechselwirkung neue Bedeutungen und Tatsachen der  gesellschaftlichen Wirklichkeit konstruiert werden, hat Herbert Blumer in seinem Aufsatz „Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus“ dargelegt.

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