Auswanderung im 19. Jh.

Zitiert aus Baier Bote 4(2006)07 vom 30. Juni 2006:


Die Gehauser Auswanderungswelle im 19. Jh.

Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger!
Heute wollen wir mal Antwort auf Fragen geben, die für viele von uns von besonderem Interesse sind. Wie wir aus unserer eigenen Geschichte wissen, haben in der Mitte des 19. Jahrh. ca. 1/3 der damaligen Bevölkerung ihren Heimatort Gehaus in Richtung „Neue Welt“ verlassen. Ein Aderlass, der noch heute spürbar ist. Gerade in den letzten Jahren war festzustellen, dass hier aber auch in den USA das Interesse der eigenen Herkunft wieder mehr in den Mittelpunkt rückte. Zwei Fragen der Nachkommen der ehemaligen Ausgewanderten beschäftigen besonders viele heutige Bürger in den USA, aber auch in Deutschland:

  1. Wo kommen unsere Familien her?
  2. Warum verließen sie eigentlich ihre damalige Heimat?

Eigentlich begann alles mit den damaligen Wandergesellen. Neben Frauen, die ins Ausland heirateten, stellten Handwerkergesellen den größten Teil der Auswanderer dar. Dazu muss man allerdings sagen, dass z. B. Salzungen in früherer Zeit bereits Ausland war. Vergleichen sollte man hier auch mal das Phänomen der Kleinstaaterei in Thüringen. Bevölkerungsverluste traten in dieser frühen Zeit aber noch nicht auf, denn aus den gleichen Gruppen speiste sich auch eine Zuwanderung. Wandern war zur damaligen Zeit notwendig, um den Wissensstand auf bestimmten Gebieten zu erweitern. Ausläufer dieses Tuns lebten bis ins Industriezeitalter fort und existieren auch heute noch in bestimmten Formen. Diese Vorstufen des „Auswanderns“ kann man nicht in wenigen Sätzen definieren, deshalb soll dies nur als kleiner Hinweis dienen, wie eigentlich alles angefangen hat. Aber auch zu diesem „Wandern“ gab es bereits gesetzliche Bestimmungen wie diese:

  1. Kaiserliche Verordnungen
  2. Verordnungen der einzelnen Landesherren
  3. Satzungen der Zünfte
  4. Regelungen in den verschiedenen Gesellschaften

Dazu gab es bereits Kaiserliche Patente um 1731, was aber 1772 erneuert werden musste, da es kaum durchsetzbar war. Es beinhaltete besonders den Ausschluss vom Wandern folgender Personenkreise:

  1. Kinder
  2. „unehrliche“ Leute, darunter fielen damals

• Totengräber
• Bettler
• Straßenkehrer, Schäfer, unehelich Geborene, Gesellen, die während der Wanderschaft in den Militärdienst eintraten.

So geschah dies über Jahrhunderte und ging langsam über zur Saison- und Wanderarbeit. Sieht man genau hin und vergleicht, so gibt es dies noch heute. Ich denke da besonders an das vergangene Jahrhundert, wo man nach Westfalen ging, aber im Moment auch an die Neuzeit mit den jetzigen vielen Pendlern. Das Grundprinzip ist immer noch das Gleiche, natürlich in geänderten Formen. Man ging zur Saisonarbeit teilweise bis Holland (Torfstechen) und Frankreich. Bei Paris entstand dabei der sogenannte „deutsche Slum“. Es liegen hier Zahlen vor über Bevölkerungsströme, die man analysierte, aber hier den Rahmen sprengen würde. Dass sich an diesem Broterwerb viele Gehauser beteiligten, liegt auf der Hand. Weitsichtige erkannten aber bereits damals, was dieser Aderlass eines Tages bedeuten würde. So versuchte man bereits ab 1785 z. B. im Regierungsbezirk Hanau in Hessen diesem Phänomen Herr zu werden und die illegalen Auswanderungen zu stoppen, nachdem größere Gruppen heimlich ihre Heimat verließen und sich in Ungarn ansiedelten. Infolge von Wirtschaftskrisen, betroffen waren hier alle deutschen Staaten, begann seit 1845 eine starke Auswanderungsbewegung mit ihrem Höhepunkt um das Jahr 1854 und nochmals um 1890. Dies trifft besonders auf das Rhöngebiet und demzufolge auch auf unseren Ort zu. Wie bereits erwähnt, ca. 30 – 35 % von der Gehauser Bevölkerung verlassen ihre Heimat. Man kann nur ahnen wie groß die Not gewesen sein muss. Auf Grund der Wirtschaftskrisen, der Revolution von 1848 und der damit verbundenen späteren politischen Verfolgung, verlassen noch mehr Bürger ihre angestammte Heimat. Waren es vor 1854 teilweise noch begüterte Familien, die Richtung. Amerika gingen, so waren es jetzt Randgruppen der Gesellschaft oder ländliche und städtische Unterschichten. Übrigens sehr stark betroffen in dieser Zeit der Raum um Schmalkalden, der zu dieser Zeit noch eine hessische Enklave darstellte. Falsche Finanzpolitik, weitere Missernten so 1846, 1847, 1851 lassen eine wirtschaftliche Erholung nicht zu und treiben Tausende zu dem Entschluss, ihr Heil in der „Neuen Welt“ zu suchen. Einwanderungsziele der Deutschen waren neben den USA die Länder Ungarn, Russland, Teile des heutigen Rumäniens. Ob Gehauser in den Osten Europas auswanderten ist nicht belegt. Es ist aber kaum anzunehmen, da man z. B. im damaligen Ungarn Protestanten als unerwünscht betrachtete. Wer doch als Protestant nach Ungarn kam, zog weiter nach Sieben¬bürgen bzw. Rußland und an die Wolga. Erst nach Josef II. Toleranzedikt von 1781 kamen lutherische und reformierte Deutsche in die Batschka und gründeten die Dörfer Torza (1784), Neu-Verbass (1785), Czerwenka (1786) usw. Diese Dörfer waren konfessionell gemischt. Rein protestantische Gemeinden waren Kisker, Sekisch, Bulkess und Jarek. Von diesen nun wieder zogen Auswanderer weiter in besiedelte deutsche Gebiete bei Odessa. Dass wir hier etwas länger darauf eingegangen sind, soll nur mal verdeutlichen, dass nicht nur die USA ein Auswanderungsziel war. Wie bereits aber erwähnt, gibt es keine Hinweise, dass Bürger unseres Ortes dorthin ausgewandert wären. Kommen wir nun zu Amerika. 90 % aller Deutschen, die über den Atlantik ihr Glück in der Neuen Welt suchten verschlug es in die USA. Der Grund am Beispiel Kanada war, die Regierung von Kanada erließ am 19.06.1868 ein Gesetz, nach dem es nur Vermögenden gestattet war, in dieses Land einzuwandern. Weitere Einwanderungsländer waren Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile und auch die Länder Lateinamerikas. Seit 1607, dem Gründungsjahr von Jamestown sind mehr als 45 Millionen Menschen in die USA eingewandert. Spätestens seit 1848 haben die heutige USA ihre geschichtliche Bestimmung erreicht. So wurden 1664 die Holländer von Manhattan vertrieben und das damaligen Neu-Amsterdam wird zu New York. 1776 sagen sich 13 ehemaligen britische Kolonien vom Mutterland England los. Im Jahr 1783 werden die Gebiete im Westen bis zum Mississippi erworben. 1803 kommt Lousiana käuflich von Napoleon dazu, 1819 dann Florida, 1845 wird Texas annektiert, anschließend Neu-Mexiko und Kalifornien. Das Territorium nördlich bis zum 49. Breitengrad hatte England 1846 freiwillig abgetreten. Später kommt noch Alaska, von Russland käuflich erworben, hinzu. Die Aufsiedlung dieses Gebietes ist in den 90er Jahren des 19. Jahrh. beendet. Dies war besonders das Werk der Einwanderer mit Beteiligung ehemaliger Gehauser Bürger. Aus Glaubensgründen wanderte man zumeist in die mittleren Staaten aus, aus wirtschaftlichen Gründen in die Südstaaten. Deutsche Einwanderer übernahmen meist handwerkliche Tätigkeiten. Büroarbeiten waren weniger, da viele der Sprache nicht mächtig waren. Für viele z.B. heute nicht vorstellbar, so war die Stadt New York um 1900 die drittgrößte deutschsprachige Stadt, nach Berlin und Wien, auf der Welt. Erst der I. Weltkrieg mit dessen Ergebnissen änderte dies. Hier beginnt auch langsam und schleichend der Bruch mit Amerika. Ehemalige Deutsche änderten nun ihre Familiennamen und amerikanisierten diese. Dies wird auch an unserer eigenen Geschichte sichtbar. Langsam aber unaufhaltsam werden die verwandtschaftlichen Beziehungen lockerer und verschwinden zumeist für immer. Es gibt nur wenige Beispiele, wo dies in den betreffenden Familien nicht der Fall war. Seit einigen Jahren ist aber hier ein Wandel sichtbar. So bekennen sich in jüngster Zeit ca. 50 – 70 Millionen US-Bürger zu ihren deutschen Wurzeln. Was können uns Zahlen dazu sagen?
Nach Harvard Encyclopedia of America Ethnic Groups von 1980 ergibt sich:

Einwanderungen aus Deutschland ( 1000 pro Jahrz.):

  • 1821-1830 –        7
  • 1831-1840 –    157
  • 1841-1860 – 1.387
  • 1881-1890 – 1.453

Hier sieht man bereits auch den Vergleich über die starke Auswanderungswelle für das Gebiet unserer Heimat, den Verlust von 1/3 der eigenen Bevölkerung. Für Gesamt-Deutschland gilt:

  • 1821 – 1970 – 6.915

zählt man den gesamten deutschsprachigen Raum, so kommen nochmals 4,172 hinzu. Also summa summarum haben von 1821 – 1970 11.087.000 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen und maßgebenden Anteil daran, dass die USA das sind, was sie heute darstellen. Ein wenig stolz können auch wir Gehauser darauf sein. Übrigens das Mutterland England kann „nur“ auf 4,782 Mill. Auswanderer verweisen. Selbst Italien steht mit 5.175 Einwanderern noch vor dem vereinigten Königreich. Eine kurze Reihenfolge der wichtigsten Auswanderungsländer ergibt:

  1. Deutschsprachiger Raum          – 11,087 Mill
  2. Italien                                      –    5,175 Mill.
  3. England                                    –   4,782 Mill.
  4. Irland                                       –    4,712 Mill.

Was ist nun noch von unseren ehemaligen Bürgern bekannt? In den Nachbarschaftsbüchern ( ähnl. Einwohnerbücher) sind viele Namen hinterlegt, wer, wann und auch wohin seine Heimat verließ. Leider sind diese Namen sehr unleserlich geschrieben, so dass es noch viel Anstrengung bedarf um Licht in das Dunkel der Geschichte zu bringen. Die Orte, wohin man zog, sind kaum beschrieben. Man liest fast immer „verzogen nach Amerika“. Folgende Namen konnten bisher zweifelsfrei festgestellt werden: Wiegand, Klotzbach, Nordheim, Hill, Schanz, Schwier, Reinboldt, Eichel, Clark, Weitz. Namen von ausgewanderten Frauen wurden bisher nicht gefunden. Obwohl wir wissen, dass viele jüdische Mitbürger ihre Heimat verließen, sind wir auch hier noch nicht fündig geworden. Noch 1914 waren folgende Orte bekannt, in denen ehemalige Gehauser wohnten und es auch noch Kontakte gab. So die Ortschaften: Baltimor, Philadelphia, Newport, Hamilton, San Francisco, Cincinatti, Torresdale, Landsdale.
Ein Aufruf an alle geschichtsinteressierten Bürger: Sollte jemand weitere Kenntnisse über ehemalige Gehauser haben, wäre es schön, wenn man sich mit dem HPV e. V.Gehaus in Verbindung setzen würde. In diesem Zusammenhang möchte ich im Namen des Vereins auch Frau Sybille Franke aus Gehaus danken, die uns auf diesem Gebiet sehr behilflich war. Ich erinnere noch mal an das Gedicht von Frau Christine Hill aus Philadelphia, welches diese zur Einweihung des Aussichtsturm¬es am Baier vom 17. Mai 1914 nach Gehaus sandte. Hier handelt es sich um ein Heimatgedicht von Carl Albert Blesssing. Veröffentlich in den Gehauser Heimatglocken von Mai 1914.

Quellen:

  • Hessisches Staatsarchiv Marburg
  • Archive der Stadt Stadtlengsfeld/Gehaus mit Hilfe von Dr. Martin Walter und Rolf Leimbach Stadtlengsfeld
  • Frau Sybille Franke
  • HPV e. V.Gehaus

Im Namen des Heimatpflegeverein e. V.
Reinhold Lotz
Vors.


Bücher und DVD über Geschichte, Landschaft und Kultur der Rhön und Thüringens
– nach Themen sortiert –


 

3 Kommentare

  • Wolfgang Müller-Wilderink

    Sehr geehrter Herr Lotz,
    Karoline Philippine Kaufmann, *8.9.1855 Gehaus
    oo 9.3.1874 in Baltimore City mit
    Georg Heinrich Heß, *22.6.1854 Pferdsdorf.
    Sie sind vor 1874 ausgewandert. Ihre Bilder und Nachkommen habe ich, auch alles über die Familie Heß.
    Haben Sie Daten über Familie Kaufmann aus Gehaus.
    Die Mutter von Karoline war Anna Barbara Schmidt.
    Herzlichen Gruß, Wolfgang Müller-Wilderink

    • Danke für Ihren Kommentar,
      ich habe eben Herrn Lotz darüber telefonisch informiert. Er hat zur Zeit ein Problem mit seinem PC und kann nicht sofort antworten, ich treffe ihn aber Ende Februar persönlich in Gehaus und danach spätestens werden sie eine Antwort auf Ihre Frage nach Familie Kaufmann erhalten. Ich weiß nur soviel, dass zwei Familien Kaufmann (Brüder) am Gehauser „Zipfel“ wohnen. Ob diese auch Nachkommen von Anna Barbara Schmidt sind, kann ich noch nicht sagen.

      Mit freundlichen Grüßen
      Helmut Hehl

  • Reinhold Lotz

    Sehr geehrter Herr Wolfgang Müller-Wilderink,

    danke für ihre Anfrage. Demnächst werde ich im Archiv der Pfarrgemeinde Gehaus in Absprache mit dem Pfarrer versuchen, Daten über Ihre Vorfahren Anna Barbara Schmidt und Mann herauszufinden.
    Meine Adresse lautet: Reinhold Lotz, Hauptstraße 142, 36404 Gehaus. Tefon-Nr. 036965/80253.

    Herzlichen Gruß
    Reinhold Lotz

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